Bergführer Martin Nellen führt unerschrockene Gäste bei Vollmond auf Schneeschuhen über den Aletschgletscher. Zum Finale erzählt er in seiner Alphütte bei Kerzenschein uralte Geschichten.
Martin Nellens Stimme wird ganz ruhig, manchmal sogar ein klein wenig langsamer, wenn er vom „Gratzug“ erzählt, der Wanderung der armen Seelen aus den Walliser Sagen. Vielleicht spricht dann einfach mehr sein Herz als sein Kopf – immerhin sind die uralten Erzählungen Teil seiner Kindheit. Und ein Stück davon offenbart er Gästen bei den Sagenwanderungen auf Schneeschuhen. Immer nur ein knappes Dutzend Teilnehmer kann mitkommen, denn dem Bergführer ist es wichtig, dass es ein kleiner, überschaubarer Kreis bleibt, der sich in der Dämmerung von der Riederalp, unweit des Aletschgletschers, des größten und längsten Gletschers der Alpen, aufmacht. Ein ganz praktischer Grund für die Gruppengröße spielt auch eine Rolle: In der entlegenen Alphütte ohne fließend Wasser und Strom, zu der er die Leute führt, gibt es einfach nicht mehr Platz.
Es ist ganz still auf dem autofreien Hochplateau
„Manchmal fahren wir auch mit der letzten Bahn zur Moosfluh hinauf“, erklärt er, „dann geht es beinahe ohne Steigung hinüber zur Hütte.“ Von der Riederalp hingegen sind 300 Höhenmeter zu bewältigen. Doch der Aufstieg ist für durchschnittliche Wanderer gut zu machen – auch Zehnjährige hat der Bergführer schon mitgenommen. Bevor es losgeht, bekommen die Gäste ihre Schneeschuhe, mit denen sie selbst im Tiefschnee gut vorankommen, ohne einzusinken. Der Unterschied zur gewohnten Fortbewegung mit normalen Stiefeln ist der leichte „Watschelgang“, da Schneeschuhe etwas breiter sind als Wanderschuhe. Außerdem erleichtern Trekkingstöcke das Vorankommen und sorgen für zusätzliche Stabilität.
Als sich die Gruppe in Bewegung setzt, hat sich die Sonne bereits von der Riederalp verabschiedet und steckt ihre ganze Kraft in die Beleuchtung der Wolken, die auf den Bergspitzen am Horizont sitzen: Ein goldenes Orange, das zu den Rändern hin apricotfarben ausfranst, hat sie sich ausgedacht. Und für die etwas wattigere Schicht darüber ein zartes Rosa. Es ist ohnehin still auf dem autofreien Hochplateau der Aletsch Arena, das sich die Riederalp mit der Bettmeralp und der Fiescheralp teilt. Der Schnee schluckt noch die letzten Geräusche. Skifahrer und Snowboarder sitzen nun beim Feierabendbier oder in der Sauna, und unsere Wanderer schwingen sich langsam in ihren eigenen Rhythmus ein: rechter Fuß, linker Fuß, einatmen, ausatmen.
Der Atem macht Dampfwölkchen, die sich als Eiskristalle in den Augenbrauen niederlassen, und nach den Plaudereien, die die Wanderer zu Beginn noch versucht haben, stapft nun jeder, ganz in sich versunken, bergauf. Es ist beinahe eine Art von Trance, in die man durch die gleichmäßige Bewegung fällt. Es gibt nichts zu tun außer: rechter Fuß, linker Fuß, einatmen, ausatmen.
Irgendwann – der Himmel erinnert nur noch mit einem leichten hellen Streifen, der die Bergzacken als Scherenschnitt aufragen lässt, an den Tag – schreckt ein Schwarm Kolkraben die Wanderer aus ihrer Versunkenheit. „Wie bestellt“, sagt er, denn in seinen Sagen für die nächtliche Schneeschuhwanderung geht es häufig um Geister, denen ja bisweilen Rabengestalt nachgesagt wird. Inzwischen hat sich in der klaren Luft ein Nachthimmel aufgespannt, der fast unwirklich scheint: Es ist kaum Platz für das Schwarz des Himmels vor lauter Sternen. Martin Nellen bleibt stehen – und als sich die Gäste vom Anblick nicht mehr losreißen können, lockt er sie mit der Aussicht auf die warme Stube in seine nahe gelegene Alphütte mit der dicken Schneehaube auf dem Dach.
Während er im Schein der Stirnlampe den Ofen anschürt und Glühwein aufsetzt, rücken die Wanderer um den Tisch zusammen, und als es wärmer wird in dem kleinen, gemütlichen Raum, werden Jacken ausgezogen und Handschuhe zum Trocknen aufgehängt. Der Kerzenschein flackert auf sein Gesicht und lässt seinen Schnauzbart lustige Schatten werfen, doch seine Augen werden ernst, als er zu erzählen beginnt. Von dem Mann, der nicht einschlafen kann, sich im Bett hin und her wälzt und schließlich aufsteht: „Es ist schon nach Mitternacht, der Mann geht in die Küche, und da sieht er draußen, gar nicht weit entfernt“ – Martin Nellen schaut hinüber zum beschlagenen Fenster – „den Gratzug vorbeiziehen.“
Der Gratzug, zur Erinnerung, ist in den Walliser Sagen die Wanderung der armen Seelen. Sie büßen hier übrigens nicht im Fegefeuer, sondern in den Tiefen des Aletschgletschers. „Da bemerkt der Mann den Letzten“, erzählt er. „Der kommt ihm bekannt vor, wie er geht und überhaupt. Er sieht ihn nur von hinten, doch da fällt ihm auf, dass er einen einzelnen Strumpf über der Schulter liegen hat. Er schaut hinauf zur Ofenstange“ – die Gäste folgen seinem Blick zur Ofenstange – „und da sieht er den zweiten Strumpf hängen.“
In der Hütte ist es mucksmäuschenstill, lediglich das Feuer knistert im Ofen, bisweilen explodiert das Harz im Holz mit einem lauten Knall. Der Wind fährt in den Kamin und rüttelt etwas an den Fensterläden, als wolle er zeigen, dass er auch da ist. Martin Nellen erzählt die Walliser Sagen in der heimischen Mundart, so wie er sie als Kind von seinen Großeltern hörte. Dann übersetzt er sie – und es geht dabei nichts von der Magie verloren. Das Publikum hält den Atem an, niemand hustet, alle möchten mehr. Als sich die Gruppe nach rund einer Stunde zum Abstieg bereit macht und er die Tür öffnet, will keiner als Erster raus …