Jedes Jahr im September versammeln sich in Ravensburg Tausende Menschen zum gemeinsamen Spielen unter freiem Himmel. Ein Wochenende lang kann man in Oberschwaben neue Spiele ausprobieren. Ein Erlebnis für Groß und Klein.
Jetzt keine Scheu, auch keine falsche Zurückhaltung: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Also, zack-zack, sofort rein in die Altstadt, natürlich zu Fuß und durch eines der Tore wie früher im Mittelalter die vielen Händler. An normalen Tagen würde sich der Blaserturm, 212 Stufen, für einen spontanen Wettlauf anbieten: Über dem Häusermeer spielen die Bläser des Stadt- orchesters, wenn sie sich vom Aufstieg erholt haben. Heute aber schlägt das Herz Ravensburgs nicht dort oben, von wo aus man die Gipfel der Alpen sieht, sondern auf dem Kopfsteinpflaster. Die Gassen der ehemals Freien Reichstadt sind eine Fundgrube für Flaneure – und verwandeln sich einmal im Jahr in einen Spielplatz unter freiem Himmel.
Die Kleinsten toben mit Miniatur-Autos durch einen Parkour voller Strohballen. Im Zelt der Puppenklinik haben Krankenschwestern und Ärzte alle Hände voll zu tun, denn eine ganze Armada an Kuscheltieren benötigt einen Gesundheitscheck. Schüchterne Kinder verwandeln sich in mutige Stadtindianer, wenn sie über Seile balancieren und ihre Sinne bei einem Parkour schärfen dürfen. Junge Baumeister errichten Miniatur-Städte aus Bambus und Stein. Hier kann man sich beim Getränkekisten-Stapeln und Mehlsäcke-Werfen beweisen, dort in aller Ruhe T-Shirts bemalen und die beste Freundin schminken. Der Oberbürgermeister spielt „Carrom" mit Geflüchteten, der Naturschutzbund hilft beim Nistkastenbau.
Ravensburgs Honoratioren, dekoriert mit Kuhhorn-Mütze und Schelle um den Hals, treten beim sogenannten Viehathlon gegen die Schwesterstadt Weingarten an. Weil sich jedes der beiden Fünferteams ein paar Ski teilen und damit übers Pflaster rutschen muss, ist Chaos vorprogrammiert. Im Schwörsaal arbeiten Hunderte von Helfern daran, ein Puzzle mit 40.000 Teilen zusammenzusetzen. Auf den Biertischen in den Straßen türmen sich derweil die Brettspiele.
Spielenacht im Kornhaussaal
Es wird geschwitzt, gelacht, geflucht, gewürfelt, getrickst und am Ende gewonnen – Zeit für eine Revanche gibt es aber auch. Wenn sich die Altstadt am Abend leert, geht es bei der langen Spielenacht im Kornhaussaal nämlich erst so richtig los. Offiziell ist hier bei den Rollenspielen und Magic-Runden des Spielevereins Weltenwanderer zwar um zwei Uhr morgens Schluss. Doch sind die Partien dann immer noch nicht entschieden, geht das Spektakel in die Verlängerung.
„Wir haben an den zwei Tagen inzwischen viele zehntausend Besucher in der Altstadt", freut sich Thomas Reischmann vom Wirtschaftsforum Pro Ravensburg. Der Verband der örtlichen Industriebetriebe, Einzelhändler und Handwerker ist zusammen mit der Stadtverwaltung Veranstalter des Spiel-Spektakels unter freiem Himmel. „Ravensburg spielt" steigt – bei jedem Wetter – immer am letzten Wochenende der baden-württembergischen Sommerferien, dieses Jahr am 10. und 11. September: „Es ist in Ravensburg heute fast so populär wie die viel bekanntere Veranstaltung der Stadt, das fünftägige Rutenfest." Die Tradition, dass die Schüler in Ravensburg Theater spielen und kostümiert mit Trommelgruppen und Fanfarenzügen durch die Straßen ziehen, stammt aus dem 17. Jahrhundert. „Ravensburg spielt" gibt es erst seit 30 Jahren.
Einer derjenigen, die bei „Ravensburg spielt" die Menschen regelmäßig ins Spiel gebracht hat, ist Heiner Wöhning. „Es muss schnell gehen: Die ersten paar Minuten sind entscheidend. Dann muss man die Geschichte eines Spiels erfasst haben und Lust bekommen, weiterzumachen." Der Mann mit dem wuscheligen Haar erklärt an dem Wochenende Interessierten pausenlos die Regeln neuer Spiele – und weil so viele Menschen auf den Bierbänken sitzen und seine Stimme zwei Tage durchhalten muss, macht er das mit dem Mikrofon. „Andere Leute sammeln Briefmarken. Mein Hobby ist das Spielen", erzählt er. „Das ist ein Ausdruck der Freude am Leben, wie ein Urlaub vom Alltag."
„Vor 30 Jahren kannte man Ravensburg zwar im ganzen Land als die Stadt, aus der die Spiele kommen. Doch vor Ort hat man davon damals überhaupt nichts gemerkt – nur am Bahnhof gab es ein kleines Schild", erzählt Heiner Wöhning. Mit seinem Kollegen Bertram Kaes hatte der Spieleerfinder aus Bielefeld gerade für den Ravensburger Spieleverlag ein irres Würfelspiel auf den Markt gebracht. Bei „Das Nilpferd in der Achterbahn" spielt man Pantomime, bastelt mit Knete, und gurgelt sein Lieblingslied, damit die Mitspieler einen Begriff erraten. Fast drei Millionen Mal wurde das Spiel gekauft und in 20 Sprachen veröffentlicht.
Kostenlos Spiele ausleihen
Die beiden Erfinder stellten dann auch das erste Festival auf die Beine. „Sofort war klar: Es kommt super an, dass man überall in der Stadt aktiv sein und neue Spiele ausprobieren kann." Inzwischen engagieren sich nicht nur viele Vereine aus Ravensburg und Unternehmen aus der Region mit Angeboten. Auch etliche Verlage aus ganz Deutschland präsentieren Klassiker wie „Malefiz" und „Memory", „Siedler von Catan" und „Sagaland", testen insgeheim aber auch so manche Neuheit. Ausleihen kann man sich die Spiele kostenlos, zu kaufen sind sie aber nicht – um den Spielwarengeschäften nicht das Geschäft zu verderben. Für den Animateur Heiner Wöhning ist „Ravensburg spielt" das schönste Wochenende des Jahres: „Alle Welt will hier erproben und experimentieren. Das Interesse an klassischen Spielen gibt es weiterhin, trotz Internet und Computerspielen."
Doch nicht nur am trubeligen Wochenende von „Ravensburg spielt" hat die Stadt ein Herz für Spielgesellen. Im Museum Ravensburger zeigt der berühmte Verlag das erste, 1884 erschienene Gesellschaftsspiel „Reise um die Welt". Wer schon immer wissen wollte, wie ein Spiel eigentlich entsteht, kann es hier erfahren. Außerhalb der Stadt gibt es das alles im Großformat und unter freiem Himmel. Das Ravensburger Spieleland ist ein Freizeitpark zum Ausprobieren statt zum Konsumieren. So kann man hier durch das „Verrückte Labyrinth" stöbern und „Memory" vom Hubschrauber aus spielen. Die Figuren aus der „Sendung mit der Maus" bitten zur Entdeckungstour. Kinder besuchen eine Zirkusschule, lernen im Elektromobil das Autofahren und probieren das Reifenwechseln.
„Bei uns gibt’s Angebote für Kinder ab zwei Jahren", sagt Claudia Bihl vom Besucherservice. „Es geht nicht um den Nervenkitzel bei möglichst spektakulären Fahrgeschäften. Wir wollen die Besucher mit unserem Konzept zum Mitmachen animieren."
Ein Besuch im Freizeitpark kann deswegen recht nervenaufreibend sein. Beim Feuerwehrspiel muss man in Windeseile Häuser löschen, im Melkspiel gegen Herausforderer antreten und sich in der Sandgrube mit dem Bagger austoben. Zwar gibt es auch Raketenblitz und Rutschen, doch in den acht Themenwelten sind die meisten der 70 Attraktionen eher etwas für sanfte Gemüter. Gibt es denn einen Geheimtipp? „Heiß begehrt sind die Seminare in der Schoko-Werkstatt, in der man seine eigene Schokolade herstellen kann", lächelt Claudia Bihl. „Das schmeckt nämlich nicht nur dem Nachwuchs, sondern auch den Erwachsenen."