Hertha BSC verliert auch den Ligaauftakt beim Lokalrivalen und steht damit bereits zu Saisonbeginn mit dem Rücken zur Wand.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber: Nach nur zwei Pflichtspielen der Saison 2022/23 steht Hertha BSC schon wieder so schlecht da, wie es nur eben geht. Erst gab man eine 2:0-Führung gegen den Zweitligisten Eintracht Braunschweig aus der Hand und schied am Ende mal wieder in Runde eins aus dem DFB-Pokal aus. Dann war die anschließend für das Hauptstadtduell beim 1. FC Union über die vollen 90 Minuten beschworene Kompromisslosigkeit und Zweikampfschärfe von Beginn an nicht zu sehen – und das prestigeträchtige Duell ging mit 1:3 aus blau-weißer Sicht sang- und klanglos an den Lokalrivalen. In beiden Partien offenbarte Hertha dabei gravierende mentale Probleme: In Braunschweig verlor man nach dem Anschlusstreffer der Eintracht durch einen Foulelfmeter mit einem Mal die bis dato gezeigte Spielkontrolle – in Köpenick wiederum reichte der Wille des Teams schlicht nicht aus, um eine Chance zu haben. Noch das Positivste an der vierten Niederlage gegen Union in Folge vielleicht: dass die Mannschaft von Sandro Schwarz nach Abpfiff keinen hasserfüllten Empfang vor ihrer Fankurve bekam wie bei der letzten Derbypleite im April. Es gab im Gegenteil sogar einen kurzen, aufmunternden Applaus – wohl auch dem inzwischen vollzogenen Personalwechsel an der Vereinsspitze geschuldet, da mit Kay Bernstein ja inzwischen ein Mann Präsident ist, der bei den Fans viel Kredit genießt.
Was wird aus Ex-Kapitän Boyata?
Ein Paukenschlag dabei sicher die Nichtberücksichtigung von Dedryck Boyata für die Partie – der belgische Nationalspieler war letzte Saison noch Kapitän, wurde dann aber vom neuen Trainer zunächst degradiert und nach seiner wenig überzeugenden Vorstellung im Pokalspiel nun ganz aus dem Kader gestrichen. Damit scheint eine Trennung von Boyata, der durch Neuzugang Filip Uremović ersetzt wurde, noch vor Ende des Transferfensters unausweichlich. Die offenbar auch als Profilierungsmaßnahme des Trainers vollzogene Entscheidung wirkt in dieser Schärfe und zu diesem Zeitpunkt der Saison jedoch unverhältnismäßig und lässt bereits Rückschlüsse auf ein gestresstes Binnenklima zu. Das 0:1 zur Pause war aus Hertha-Sicht dabei noch als schmeichelhaft zu bezeichnen, nach dem Wechsel legte aber zunächst nur der Gegner eine Schippe drauf und kam binnen weniger Minuten zu zwei weiteren Treffern. Damit war die Partie bereits gelaufen: Hertha-Coach Schwarz wechselte dreimal, auch Neuzugang Wilfried Kanga kam zum Einsatz – und sorgte für den ersten Torabschluss der Gäste aus dem Spiel heraus nach einer Stunde. Der „Ehrentreffer" von Dodi Lukebakio – immerhin mit dem zweiten Tor im zweiten Pflichtspiel – fiel dann viel zu spät für eine etwaige Wende. Die gleichermaßen oft im Vorfeld gestellte und strapazierte Frage nach der Nummer Eins in der Hauptstadt ist somit nach den letzten Duellen und nicht zuletzt wegen der allgemeinen sportlichen Entwicklung beider Vereine noch eindeutiger zu beantworten.
Unterdessen setzt sich das Personal-Puzzle im Hertha-Kader fort – streng nach der Devise: Ein „Teil" wird nur hinzugefügt, wenn zuvor eins abgegeben wurde. So befinden sich die Verpflichtungen von Jean-Paul Boetius (zuletzt Mainz 05) und Ludovic Ajorque (Racing Straßburg) noch in der Schwebe. Da im Mittelfeld allerdings zuletzt der Abgang von Jurgen Ekkelenkamp zum belgischen Erstligisten RFC Antwerpen konkret wurde, dürfte Boetius bald den Hertha-Dress überstreifen. Ekkelenkamp wäre damit der erste „Fehleinkauf" unter Federführung von Fredi Bobic – bislang war der Geschäftsführer Sport hauptsächlich damit beschäftigt, den Kader von (teuren) Altlasten zu befreien, die nicht aus seiner Amtszeit stammen. Zu ihnen gehört etwa Krzysztof Piatek, im Januar 2020 für 24 Millionen Euro vom AC Mailand geholt. Aus dem zwischenzeitlichen Leihgeschäft mit AC Florenz ist aber (bislang) nicht mehr geworden, weshalb der polnische Nationalspieler wieder in Blau-Weiß trainiert, bis er ein neues Angebot für 2022/23 erhält. Piatek gilt jedoch, mit Ausnahme der Serie A in den europäischen Top-Ligen aufgrund seines Spielstils, als schwer zu vermitteln – und wird auch nicht mehr bei Borussia Dortmund unterkommen, nachdem der BVB kurzfristig den Kölner Anthony Modeste verpflichtet hat. Sollte für den Hertha-Angreifer mit Arbeitspapier bis 2025 jedenfalls für die kommende Spielzeit doch noch ein neuer Arbeitgeber (auf Leihbasis oder per Kaufvertrag) gefunden werden, könnte Fredi Bobic noch mal über Ludovic Ajorque nachdenken. Bislang hatte sich der 28-jährige Stürmer aus der Ligue 1 mit über zehn Millionen Euro Ablöse als zu kostspielig erwiesen – sollte Großverdiener Piatek (Jahresgehalt: 4,5 Millionen Euro ohne Prämien) von der Lohnliste gestrichen werden können, sähe der Fall aber wieder anders aus. Mit Ajorque und Kanga hätte Sandro Schwarz dann zwei wuchtige Torjäger im Portfolio, die sich um den einen Platz in der Sturmzentrale anstacheln würden – was allerdings auch Davie Selke nachdenklich stimmen dürfte. Als Streichkandidat im Hertha-Kader wird inzwischen auch Maximilian Mittelstädt gehandelt – nachdem auf der Linksverteidigerposition Marvin Plattenhardt dank neuem Kapitänsstatus quasi „unkündbar" und im Mittelfeld beziehungsweise auf der offensiven Außenbahn kein Platz mehr frei ist für das Eigengewächs. Allerdings soll bislang auch noch kein Angebot für Mittelstädt eingegangen sein – wie auch für Omar Alderete (zuletzt an FC Valencia ausgeliehen), der nach seiner Absage beim spanischen Erstligisten FC Getafe weiter bei Hertha individuell mittrainiert. Warten muss man auch immer noch auf verletzte und unpässliche Spieler, die sich im Aufbau befinden, aber für die Spielzeit 2022/23 (eigentlich) fest eingeplant sind – oder es zumindest einmal waren. Dazu gehören in diesen Tagen die Offensivspieler Kelian Nsona, der seit seiner Verpflichtung im Winter verletzungsbedingt noch zu keinem Einsatz kam, oder Jessic Ngankam – aber auch Marco Richter nach seiner Tumor-OP.
Muss Mittelstädt auch gehen?
Bei allen Personalfragen verdeutlicht der Fall Boyata dabei am eindrücklichsten, wie schnell es bei Hertha BSC derzeit gehen kann – und dürfte ohnehin verunsicherte Spieler im Kader noch mehr ins Grübeln bringen. Keine allzu guten Voraussetzungen für die nächsten Partien, die ein kerniges Programm mit sich bringen. Am Sonnabend empfängt Hertha BSC im Olympiastadion Eintracht Frankfurt, danach geht es zu Borussia Mönchengladbach und dann wieder zu Hause gegen Borussia Dortmund.