Außenpolitisches interessiert die USA bei ihren anstehenden Wahlen kaum. Vielmehr bestimmen finanzielle Unsicherheit, Vertrauensverlust in das Wahlsystem und die ständigen Kulturkämpfe der Parteien, wer künftig den Kongress beherrscht.
Es ist die Innenpolitik, die bei den Zwischenwahlen, den Midterms in den USA am 8. November, den Ton angibt: Die meisten Umfragen zeigen, dass die Wirtschaft, dass Bildung und Gesundheit, Waffengewalt und Kriminalität zu den Themen gehören, die die Menschen in den Bundesstaaten umtreiben. Anfang November wählen sie Teile des Senats, des Repräsentantenhauses und der Gouverneure neu. Außerdem auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene Delegierte, Generalstaatsanwälte, Sheriffs.
Ein Thema, so hoffen jedenfalls die Demokraten, könnte aber der Wirtschaft mindestens den Rang ablaufen: die Abtreibung. In der Tat zeigen Umfragen, dass vor allem die Wählerinnen in hohem Maße durch dieses Thema zur Wahlurne getrieben werden. US-Präsident Joe Biden versuchte in den letzten Wochen vor den Kongresswahlen, mit dem Thema Abtreibung seine Wählerschaft weiter zu mobilisieren. Er werde dem Kongress im Januar als erstes einen Gesetzesentwurf vorlegen, der das Recht auf Abtreibung bundesweit schützt – sollten seine Demokraten dort die notwendige Mehrheit erringen, sagte Biden in Washington. „Und wenn der Kongress es verabschiedet, werde ich es im Januar unterzeichnen.“ Es gilt allerdings als höchst unwahrscheinlich, dass Biden diese Ankündigung wird umsetzen können. In zahlreichen Bundesstaaten sind Abtreibungen nun weitgehend verboten. Ein bundesweites Gesetz gibt es bisher nicht. „Wenn sich die Republikaner mit einem nationalen Verbot durchsetzen, wird es keine Rolle spielen, wo Sie in Amerika leben“, warnte Biden nun in seiner Rede. Er würde als US-Präsident zwar sein Veto gegen ein bundesweites Verbot einlegen. Entscheidend sei aber, dass der Kongress ein bundesweites Gesetz verabschiede, welches das Recht auf Abtreibung schütze.
Das ist allerdings gar nicht so einfach. Die Demokraten im US-Kongress haben bereits versucht, ein bundesweites Gesetz zu verabschieden. Ihnen fehlt dazu aber die notwendige Mehrheit im Senat. Das dürfte sich auch nach den Kongresswahlen kaum ändern. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Demokraten die Kontrolle über das Repräsentantenhaus behalten und noch genügend Sitze im Senat hinzugewinnen, um im Senat den Filibuster zu überwinden und ein solches Gesetz durch den Kongress zu bringen. Die Filibuster-Regelung besagt, dass bei vielen Gesetzesvorhaben 60 der 100 Senatoren einem Ende der Debatte zustimmen müssen, damit es überhaupt zu einem Votum in der Kongresskammer kommen kann.
Biden kann nicht von erfolgen profitieren
Nach der Entscheidung des Supreme Court kam es landesweit zu Protesten. Biden und seine Demokraten verurteilten die Entscheidung und griffen das Gericht an. Eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt laut Umfragen das Recht auf Abtreibung. „Ironischerweise führt das dazu, dass die Republikaner zurzeit alles tun, um nicht über Abtreibung reden zu müssen – nachdem sie jahrzehntelang gegen das Recht auf Abtreibung gekämpft haben“, erklärt Dr. Jörg Neuheiser. Der Historiker lebt und lehrt derzeit in Kalifornien, an der University of California in San Diego.
Seit der Entscheidung des Supreme Court versuchen die Demokraten, mit diesem Thema Anhängerinnen und Anhänger zu mobilisieren – bis jetzt mit Erfolg. Offen ist, ob die große Empörung bei einigen Menschen mittlerweile etwas verpufft ist. Umfragen zeigen, dass die Wählerinnen und Wähler derzeit vor allem auf Wirtschaftsfragen schauen. Die hohe Inflation und die hohen Benzinpreise sind für Biden daher ein riesiges Problem. Ein Reizthema in den USA, dem Land der Autofahrer, wo die Gallone (entspricht 3,8 Liter) Benzin derzeit etwas mehr als umgerechnet einen Euro kostet, Diesel etwa 1,44 Euro. Die Republikaner greifen die Demokraten von dieser Seite immer wieder heftig an. Dem scheint Biden nun etwas entgegenhalten zu wollen und will die Benzinpreise senken: Die Unternehmen sollen ihre Produktion in den USA erhöhen, gleichzeitig zapft das Land zum wiederholten Mal seine strategischen Ölreserven an.
Dass die Demokraten es derzeit schwer haben, bestätigt auch Dr. Jörg Neuheiser. „Üblicherweise verliert die Partei des Präsidenten bei der Zwischenwahl Stimmen. Da die Demokraten sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat nur sehr knappe Mehrheiten haben, könnte schon ein leichter Zugewinn bei den Republikanern die Machtverhältnisse verschieben und dafür sorgen, dass Präsident Biden für die zweite Hälfte seiner Amtszeit gegen einen Kongress regieren muss, der alle Vorschläge des Weißen Hauses ablehnen kann.“ Umgekehrt könne jedoch auch der Präsident Beschlüsse des Kongresses mit einem Veto stoppen – es bestehe also die Gefahr einer grundsätzlichen Blockade der amerikanischen Politik. „Angesichts der hohen Inflationsrate und verbreiteter Skepsis gegenüber Biden, der mit dem chaotischen Abzug aus Afghanistan in Verbindung gebracht wird und politisch öfters an der Uneinigkeit seiner eigenen Partei gestrauchelt ist, rechnen sich die Republikaner gute Chancen auf einen Wahlerfolg aus – obwohl die Anhänger von Donald Trump die Partei in den letzten zwei Jahren immer weiter ins rechtspopulistische Lager geführt haben“, so Neuheiser.
Über der Republikanischen Partei schwebt weiter der drohende Schatten von Donald Trump. Von seinem Anwesen Mar-a-Lago aus und auf Dutzenden „Rallys“ (Kundgebungen) im ganzen Land hat er mehr als 200 Kandidaten unterstützt, die sich für öffentliche Ämter auf bundesstaatlicher oder Bundesebene beworben haben. Ob sie den Wähler überzeugen, muss sich erst noch zeigen. Doch mit ihrer Hilfe will Trump den Grundstein legen, um auch 2024 wieder als Präsidentschaftskandidat anzutreten und beide Kammern, Senat und Repräsentantenhaus, zu beherrschen: Die meisten von ihnen zeichnet aus, dass sie bedingungslos loyal gegenüber dem vor seiner zweiten Amtszeit gescheiterten Ex-Präsidenten sind, dass sie seinem Märchen von einer gestohlenen Wahl Auftrieb geben und dass sie oftmals keine etablierten Politiker sind.
Eine von ihnen: Kari Lake. Die ehemalige TV-Moderatorin, einst registrierte Demokratin, fährt mittlerweile voll auf Trump-Linie, verbreitet Verschwörungstheorien und behauptet, Joe Biden sei nicht legitimer Präsident der USA, die Wahl 2020 sei Betrug gewesen. Als Gouverneurskandidatin von Arizona tritt die charismatische Journalistin in einem jener Bundesstaaten an, in denen Trump versucht hatte, Stimmen für sich zu „finden“. Zahllose Gerichtsentscheidungen hatten jedoch immer wieder festgestellt, dass an den Betrugsvorwürfen nichts dran ist.
Trump bereitet Partei auf seine Rückkehr vor
Lake behauptet trotzdem weiter felsenfest, die Wahl sei gefälscht gewesen. Auf die Frage einer TV-Journalistin, ob sie eine Niederlage nach der Wahl zur Gouverneurin anerkennen würde, antwortete sie lediglich: „Ich werde gewinnen, und ich werde dieses Ergebnis anerkennen.“ Ihre Kontrahentin ist die Demokratin Katie Hobbs, vormals Secretary of State und damit nicht nur Vize-Gouverneurin des Staates Arizona, sondern auch dessen oberste Wahlverantwortliche. Hobbs verantwortete 2020 den Prozess der Präsidentschaftswahlen in diesem Bundesstaat, geriet also rasch ins Visier derjenigen, die behaupteten, es habe massive Unregelmäßigkeiten auch in Arizona gegeben. 150.000 Dollar Steuergeld genehmigte die republikanische Kongressmehrheit von Arizona, um die Wahl zu untersuchen. Zu einem geplanten Medienduell der beiden Kandidatinnen kam es bislang nicht: Hobbs sagte das Duell ab. Ein riskanter Zug angesichts der Tatsache, dass sie in den Umfragen bislang leicht hinter Kari Lake zurückliegt. Sie begründete dies gegenüber dem US-amerikanischen Sender MSNBC damit, dass man nicht mit „einer Kandidatin debattieren könne, die die Wahrheit ablehnt“ und nicht „mit Fakten arbeite“.
Ein Fall von vielen, in denen es bei den kommenden Midterms eben nicht nur um Geld, Gesundheit, Waffen oder Abtreibung geht, sondern um die teuerste politische Währung in einer Demokratie: Vertrauen. Dieses Vertrauen in das Wahlsystem hat Donald Trump gründlich erschüttert und erschüttert es weiterhin mit seinen Behauptungen, die Wahl sei ihm gestohlen worden. Die so gesäte Unsicherheit polarisiert die ohnehin bereits tief gespaltene politische und gesellschaftliche Landschaft der USA weiter. Ein Nährboden für die extremen Ränder.
Während sich die Demokraten zwischen progressiven, vor allem jungen Kandidaten, und moderaten, eher älteren, etablierten Politikern zerreiben, hat sich die Republikanische Partei in eine Radikalisierung treiben lassen. Nur zwei von Trumps Kritikern haben ihre Nominierung erfolgreich durchlaufen, alle anderen wurden von ihrer Partei sanktioniert, in Wahlen abgestraft oder traten erst gar nicht wieder zur Wahl an. Historiker Neuheiser sieht das System insgesamt dadurch aber nicht in Gefahr: „Wenn es dauerhaft zu Zweifeln an der Verlässlichkeit des Wahlsystems kommt, könnte die amerikanische Demokratie tatsächlich in eine noch größere Krise steuern“, so Neuheiser. „Ich rechne aber nicht damit, dass ein Zusammenbruch bevorsteht. Egal wie die Wahlen ausgehen: Republikaner und Demokraten werden sich weiterhin in extremer Polarisierung gegenüberstehen, ohne dass sich in der institutionellen Praxis große Änderungen ergeben.“
Er blickt vor allem gespannt nach Florida, „wo mit Ron DeSantis ein Republikaner antritt, der als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird und eine erneute Kandidatur von Donald Trump stoppen könnte“, so Neuheiser. „In Pennsylvania kämpfen der Republikaner Mehmet Oz und der Demokrat John Fetterman um einen Sitz im Senat – Oz ist ein bekannter Fernsehdoktor, während Fetterman, der vor Kurzem einen Schlaganfall hatte, am liebsten in Shorts und Sweatshirt Wahlkampf macht. Er versucht, die weißen Unterschichtswähler zu mobilisieren, die in den letzten Jahren eher Donald Trump unterstützt haben. Der Ausgang dieses Rennens ist extrem eng und könnte das Zünglein an der Waage sein, wenn es um die Mehrheit im Senat geht.“ Spannend sei auch der Gouverneurs-Wahlkampf von Stacey Abrams in Georgia – die schwarze Hoffnungsträgerin der Demokraten hatte in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die einstige republikanische Hochburg Georgia zu einem hart umkämpften Staat im amerikanischen Süden wurde. In den Umfragen schwächelt sie allerdings gerade hinter ihrem Herausforderer Brian Kemp.
Sollten die Republikaner nach der Wahl die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen, wäre Kevin McCarthy designierter Mehrheitsführer der Partei. Bereits jetzt hat McCarthy angekündigt, Kernvorhaben der demokratischen Regierung ins Visier zu nehmen. Dazu gehört das Anheben des Schuldenlimits. McCarthy schließt dabei auch nicht aus, gleichzeitig über eine Reform von Social Security und Medicare zu sprechen, die Renten- und Gesundheitsprogramme, die laut aktuellem Bericht des US-Finanz-, Gesundheits- und Arbeitsministeriums nach 2035 zahlungsunfähig sein werden.
Demokraten in Flügelkämpfe verstrickt
Konkrete Realpolitik statt ideologischer Grabenkämpfe wäre also in der amerikanischen Politik angeraten. Stattdessen droht weiter der ideologische Schlagabtausch. So drohte McCarthy damit, dass die US-Regierung im Ukraine-Krieg dem Land keine weiteren „Blanko-Schecks“ werde ausstellen können, um Waffen zu kaufen. Die Demokraten dagegen wollen der Ukraine weiter ohne Bedingungen helfen – selbst das progressive Lager fiel bislang nicht dadurch auf, dass es US-Unterstützung in diese Richtung zu blockieren versuchte. Im Wahlkampf aber könnte die Partei einen Fehler der Kampagne von Hillary Clinton wiederholen: die Parteiagenda für wichtiger zu halten als die Nöte der Wählerinnen und Wähler. Indem sie Abtreibung als eines ihrer wichtigsten Themen vorantreibt, verkennt sie die oft kurze Halbwertszeit solcher Aufregerthemen in den US-Medien.
Gerade jetzt, knapp vor den Wahlen, bestimmt erneut der Geldbeutel den Gang zur Wahlurne. Die Republikaner gelten traditionell als versiert in Sachen Wirtschaft, weshalb gerade sie in den Umfragen oft vorne liegen. Letztlich kann dies bedeuten, dass die Demokraten den aktuellen Kulturkampf im Kopf und den Herzen der Amerikaner wohl gewinnen mögen – die Wahl aber verlieren werden.
Ob dies einer zweiten Amtszeit Bidens im Weg steht? Jörg Neuheiser glaubt das nicht. „Joe Biden ist schon oft abgeschrieben worden. Innerhalb der Demokraten fehlt eine klare personelle Alternative, deshalb schließe ich eine erneute Kandidatur nicht aus. Wenn er heute wieder gegen Donald Trump antreten müsste, würde er wahrscheinlich noch einmal – sehr knapp – gewinnen.“