Durch wirtschaftliche Abschottung und Strafen sowie die Flucht zahlreicher Menschen verschlechtert sich die Lage der russischen Wirtschaft langsam weiter. Unternehmen beginnen zu improvisieren, Flüchtende verkaufen ihre Autos, um schnell Geld zu machen.
Die Schwächsten trifft es zuerst: In Russland, dem größten Land der Erde, sind es die wirtschaftlich schwachen Regionen jenseits des Prunks von St. Petersburg und Moskau, die die Schäden des Krieges gegen die Ukraine, menschliche wie finanzielle, als erste tragen. Angesichts von oftmals fehlender Infrastruktur in diesen Gegenden könnte man denken, dass sich Regierungsvertreter noch nie in abgelegene Regionen ethnischer Minderheiten, in die Kälte Sibiriens oder in die Gebirge des Kaukasus getraut haben.
Nach Angaben des US-Thinktanks „Institute for the Study of War" Anfang August stammten die meisten bislang identifizierten russischen Kriegstoten aus ärmeren Landesteilen wie Dagestan und Burjatien. Minderheiten erhielten zudem einen geringeren Sold als andere nach ihrem vierwöchigen Training. Sie trugen – vor der Mobilmachung – die Hauptlast des Krieges. Ohnehin leben in Dagestan 56 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Der erst im Mai erhöhte Sold für Soldaten in der Ukraine lockt daher vor allem diese Teile der Russischen Föderation an die Waffen – kein großes Risiko für den Kreml. Mit der Mobilmachung ändert sich das. Denn nun trifft die Einberufung auch Teile der gut bezahlten Bevölkerung in den Großstädten, im westlichen Teil des Landes – und damit ethnische Russen. Zusätzlich zu den Sanktionen fehlen nun gut ausgebildete Arbeitskräfte, die an die Front geschickt werden oder vor der Mobilmachung fliehen. Der demografische und damit volkswirtschaftliche Schaden, den Russland dadurch in Zukunft erleiden wird, ist enorm: Die russischstämmigen Ökonomen Maxim Mironov, IE Universität Segovia in Spanien, und Oleg Itskhoki, Universität von Kalifornien, nehmen an, dass auf Grundlage der bisherigen Verlustzahlen der russischen Armee das Land mehr Tote und Verwundete beklagen wird als während der vergangenen zwei Jahre der Corona-Pandemie. Dabei starben laut offizieller Statistik 379.000 Menschen.
Sie werden fehlen, nicht nur in ihren Familien, sondern auch an ihren Arbeitsplätzen. Bereits vor der Mobilmachung, die laut offiziellen russischen Angaben 300.000 Männer – wahrscheinlich jedoch mehr, die Zahl ist geheim – unter Waffen stellen soll, flohen diejenigen, die es sich leisten konnten, aus dem Land: Zwischen Februar und September 2022 hat laut Mediendienst Integration alleine Deutschland etwa 54.000 Visa-Anträge aus Russland bearbeitet, deutlich mehr als im gesamten Jahr 2021 (etwa 40.000). Nach Zahlen der russischen Statistikbehörde Rosstat verließen seit Kriegsbeginn bis Ende September 419.000 Russinnen und Russen das Land, davon etwa 100.000 Männer im wehrfähigen Alter – und noch immer gibt es an den Grenzen zu Georgien, Finnland und der Mongolei lange Staus. Das Problem: Viele Russen besitzen keinen Reisepass. Mittlerweile verweigern die Behörden auch das Ausstellen eines Passes für Männer im wehrfähigen Alter.
Zahl der Visa-Anträge steigt rasant
Zusammen mit den international verhängten Sanktionen, die nun auch im Licht der mutmaßlichen Sabotageakte an den beiden Nordstream-Pipelines noch einmal verschärft werden, ein verheerender Ausblick für die russische Wirtschaft. Vieles kann das Kreml-Regime im Augenblick noch mit Geld überdecken. Derzeit belaufen sich die Reserven des Staates nach den Sanktionen auf nur noch die Hälfte der zuvor angehäuften 643 Milliarden US-Dollar. Zu Beginn des neuen Schuljahres Ende August wurde ein Beschluss veröffentlicht, der verlauten ließ, dass Familien in den besetzten Gebieten Donezk und Luhansk pro Kind 10.000 Rubel (nach aktuellem Kurs etwa 164 Euro) erhalten. Für russische Bürger sind solche Zahlungen nicht vorgesehen, obwohl manche Schulwaren mittlerweile teurer als in Polen sind: Vereinzelte russische Eltern haben bereits Kredite aufgenommen, um ihre Kinder einzuschulen. Das belegen Videos in den sozialen Netzwerken.
Das reale Bruttoinlandsprodukt Russlands war Ende vergangenen Jahres laut Statista noch um fünf Prozent gewachsen, im zweiten Quartal 2022, als die Sanktionen erstmals ihre Wirkung zeigten, aber bereits um vier Prozent gesunken. Bei Im- und Exporten sieht die Lage ebenfalls wenig rosig aus: Der importierte Anteil an Kleidung, Schuhen, Drogeriewaren, Spielzeugen und Haushaltsgeräten betrug im vergangenen Jahr 75 Prozent und ist in diesem Jahr deutlich eingebrochen. Der Import von Pharmazeutika beispielsweise, der maßgeblich aus Europa stammte, ist ab März um ein Viertel eingeknickt, der Anteil importierter Autos ist um das Doppelte gesunken. Nachdem Ericsson, Nokia und Cisco ihre Produktion in Russland gestoppt haben, müssen neue Gerätschaften auseinandergebaut werden, um Ersatzteile für die Reparatur zu beschaffen; für lizensierte Software und operative Systeme des deutschen Software-Riesen SAP gibt es keinen Ersatz. Nach außen wird dem Volk jedoch kommuniziert, dass die russische Ökonomie wunderbar ohne Importe klarkomme und jetzt heimische Produktion und Erfinderreichtum gefördert würden. Dies gilt auch insbesondere für die Militärindustrie.
Eiserner Griff der russischen Zentralbank
Die russische Inflation, die zeitweise 17 Prozent übersprang, ist zwar mittlerweile wieder bei 14 Prozent angekommen. Sie betrifft jedoch alle Konsumausgaben: Die Website pricing.day verfolgt das Preiswachstum über Monate und belegt einen deutlichen Anstieg für alle Lebensmittel. So ist in Moskaus Supermärkten der Preis einer simplen Packung Kaffee von 120 Rubel im Dezember 2021 auf aktuell 300 Rubel angestiegen (von 1,95 auf 4,93 Euro). Eine Tüte Grundnahrungsmittel für den Alltag ist im Vergleich zu früheren 1.600 Rubel (26,3 Euro) nun für stolze 2.500 (41,2 Euro) zu haben. Der Mindestlohn beträgt in Russland aktuell 15.279 Rubel (246,7 Euro), in der Moskauer Region liegt er bei 23.508 (382,5 Euro). Zu den täglichen Ausgaben kommen Nebenkosten und Wohnkosten, die in Russland jedoch nur einen Bruchteil von deutschen Wohnkosten betragen, gleichzeitig sind die Löhne nur marginal gestiegen. Immer wieder werden in russischen sozialen Medien Stimmen laut, dass russische Steuerzahler die Renten in Rubelwährung in den besetzten Gebieten finanzieren und künftig auch den versprochenen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur finanzieren würden. „Einen Preisanstieg wie etwa bei Lebensmitteln kann ich direkt nach den Referenden nicht verzeichnen", erklärt Ilja W. aus St. Petersburg, den wir telefonisch erreichen. Gemeint sind die Scheinreferenden in den besetzten ukrainischen Gebieten. „Vielleicht werden Lebensmittel mit der Zeit auch teurer, aber aktuell halten sich die Preise der vergangenen Wochen." Was man dagegen wirklich zu einem Schleuderpreis bekomme, seien Gebrauchtwagen. „Vor allem auf Online-Plattformen werden gerade sehr viele private Pkw angeboten, zu einem Schleuderpreis. Damit möchten sich die Menschen die Ausreise aus Russland finanzieren, oder wenigstens einen Teil davon." St. Petersburgerin Tatjana O. zeichnet ein noch pessimistischeres Bild. „Preise auf Hygieneartikel sind immens gestiegen", berichtet sie per Telefon. „Auch was den Kinder- und Tierbedarf angeht, da schießen auch gerade die Preise in die Luft."
Die finanziellen Reserven Russlands schwinden nur langsam. Zentralbank und Kreml steuern derzeit vehement dagegen – mit Erfolg. Architektin dieser starken Kriegswirtschaft ist Zentralbankchefin Elwira Nabiullina. Sie hat bislang drastisch gegengesteuert und einen Kollaps des Rubels und des Wirtschaftssystems verhindert. Steigende Preise für Energie, Dünger oder Nahrungsmittel könnten auch weiterhin dazu beitragen, dass die Sanktionen sich nur schleichend in Russlands Wirtschaft bemerkbar machen.