In den letzten 60 Jahren ist die deutsch-französische Freundschaft enger geworden. Auf dem Kriegsfuß stehen Franzosen allenfalls noch mit der deutschen Sprache. Franzosen berichten über ihre ganz persönliche Beziehung zum Nachbarland.
Nur zehn Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam Gérard Gaillaguet im südfranzösischen Toulouse zur Welt. Der 77-jährige Schriftsteller, der seit mehr als sechs Jahrzehnten in Paris lebt, wählte in der Oberschule wie die meisten guten Schüler Deutsch als erste Fremdsprache. In gutbürgerlichen Kreisen galt Deutsch auch nach dem Krieg immer noch als die Sprache der Dichter und Denker.
Gérards Stiefvater Bernard gefiel es wenig, dass sein Ziehsohn die Sprache des „Feindes“ lernte. „Bernard war viele Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen und berichtete mit Bitterkeit über die Zeit“, erinnert sich Gérard Gaillaguet. Den Deutschen gegenüber empfand er Hass und Misstrauen und war verständlicherweise wenig begeistert, als Gérard im Rahmen eines Schüleraustausches zu seinem Brieffreund Jochen nach Freiburg reiste.
Als der Brieffreund im Folgejahr nach Paris kam, reagierte Bernard schon milder und sagte: „Das Kind war ja nicht schuld.“ Noch ein Jahr später, als Gérard wieder in Freiburg war, machten seine Eltern zeitgleich im Schwarzwald Urlaub. Bei Stiefvater Bernard vollzog sich eine wundersame Wandlung. Er war stolz, seine Sprachkenntnisse aus der Kriegsgefangenschaft anwenden zu können, und schwärmte vom Service im Hotel und der deutschen Gastfreundschaft.
Jugendwerk engagierte sich
Wie wichtig persönliche Begegnungen sind, zeigt eindrucksvoll die Geschichte von Gérards Familie. Annäherungen dieser Art waren Anfang der 1960er-Jahre aber noch die Ausnahme. Als 1963 der als Élysée-Vertrag bezeichnete deutsch-französische Freundschaftsvertrag von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unterzeichnet wurde, herrschte zwischen den benachbarten Nationen noch Eiszeit. Das 1963 zeitgleich gegründete Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) wollte das ändern. Inzwischen hat das DFJW mehr als 9,5 Millionen jungen Menschen die Teilnahme an mehr als 382.000 Austauschprogrammen in beiden Ländern ermöglicht und fördert jedes Jahr 8.000 Begegnungen – 4.700 Gruppen- und 3.300 Individualaustauschprogramme, an denen etwa 190.000 Jugendliche teilnehmen.
Die heutige deutsch-französische Freundschaft ist für das DFJW das Ergebnis eines außergewöhnlichen generationsübergreifenden Engagements. 60 Jahre dauert das gegenseitige Kennenlernen nun schon. Noch in den 1970er- bis 1990er-Jahren hatten viele Franzosen Ressentiments gegenüber den Deutschen. Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen mit den ungeliebten Nachbarn wurden in Familien bisweilen nicht gern gesehen. In Filmen, die häufig im Krieg spielten, wurden Deutsche meist lächerlich und klischeehaft dargestellt. Der deutsche Akzent stand für Hitlers Sprechweise.
„Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hatte ein sehr negatives Bild von den Deutschen“, erinnert sich die heute 61-jährige Pariser Sängerin Cathy Beaumont. Ihr Vater sprach, wie viele seiner Altersgenossen, nur von den „Boches“, eine abfällige Bezeichnung für Deutsche.
Lange trennte die ungleichen Nachbarn viel mehr als eine gemeinsame Grenze. Die inzwischen verstorbene französische Dolmetscherin Brigitte Sauzay, die für die drei französischen Präsidenten Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und François Mitterrand arbeitete, fasste das Verhältnis so zusammen: „Die Deutschen lieben die Franzosen, nehmen sie aber nicht ernst; die Franzosen bewundern die Deutschen, lieben sie aber nicht.“
Nach der Bundestagswahl 1998 holte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Brigitte Sauzay als Beraterin für die deutsch-französischen Beziehungen nach Berlin. Sie brachte Gerhard Schröder bei seinem Antrittsbesuch in Paris im Oktober 1998 dazu, ganz untypisch für ihn, öffentlich Rilke-Verse zu rezitieren. Die Franzosen waren begeistert von dem deutschen Politiker, der sich als Schöngeist präsentierte.
Mittlerweile scheint die alte Erbfeindschaft fast vergessen. Auf dem Kriegsfuß stehen Franzosen allenfalls noch mit der deutschen Sprache. So wie der Soziologe Laurent Rigaldies, der trotz Teilnahme an zahlreichen Schüleraustauschprogrammen auch heute nur rudimentäre deutsche Sprachkenntnisse hat. Und das, obwohl der 51-Jährige mittlerweile einen Teil des Jahres in Berlin lebt. Vielleicht fehlt ihm auch die Motivation. Denn sein französischer Akzent kommt bei der deutschen Damenwelt gut an.
Als Kind und Jugendlicher hat er seine Mutter, eine gebürtige Polin, auf viele Reisen in die Heimat begleitet und auf der Fahrt auch einen Einblick in das geteilte Deutschland erhalten. Er ist ein Beispiel dafür, dass es „den Franzosen“ in Reinform nicht mehr gibt. Ein Drittel der Bevölkerung unter 60 Jahren hat ausländische Wurzeln.
Rigaldies hat den Eindruck, dass seit der deutschen Wiedervereinigung in den französischen Medien mehr über China oder den Mittleren Osten berichtet wird als über Deutschland. Trotzdem teilten Frankreich und Deutschland vieles. Zu allererst gemeinsame europäische Werte. Gleichzeitig sieht er viele Unterschiede, etwa in der Energiepolitik. Frankreich setzt auf Nuklearenergie, Deutschland auf grünen Wasserstoff. Während Frankreich als Wirtschaftsmacht absteigt, konstatiert Rigaldies anerkennend in Deutschland die entgegengesetzte Entwicklung. An Deutschland schätzt er eine größere Locker- und Offenheit bei Themen wie der „Ehe für alle“ oder der Aufnahme von Flüchtlingen. Doch bei aller Sympathie für die deutsche Kultur: An manches wird der Ästhet sich wohl nie gewöhnen. An weiße Socken in Birkenstocksandalen etwa oder Eiswürfel im Wein.
Junge Franzosen zumeist unbefangen
Beide Großväter von Valérie Lefèvre haben im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Einer davon geriet sogar in Kriegsgefangenschaft und schloss sich nach seiner Flucht dem französischen Widerstand, der Résistance, an. „Das alles ist nun schon lange her“, gibt die 54-jährige Kommunikationsberaterin zu bedenken, auch wenn dieser Teil der Geschichte nicht vergessen werden dürfe. Heute ist für sie die deutsch-französische Beziehung einer der Pfeiler der Europäischen Union. „Wir sind unterschiedlich“, sagt sie. Es sei wichtig, das zu akzeptieren und einen Weg des Zusammenzulebens zu finden. Das Leben sei für die Menschen auf beiden Seiten der Grenze schwierig. Da sei Solidarität das Gebot der Stunde.
Die meisten jungen Franzosen haben heute ein unbefangenes Verhältnis zu Deutschland. Das heißt nicht, dass sie blauäugig wären. Der Pariser Mattéo Pacaud ist erst Anfang 20, aber er interessiert sich sehr für Geschichte, etwa die des Zweiten Weltkrieges. Er glaubt, dass die Deutschen sich im Gegensatz zu Frankreich ihrer dunklen Vergangenheit bewusst sind. In Frankreich würde dagegen weiter an dem Mythos gestrickt, alle Franzosen seien Widerstandskämpfer gewesen, die Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem Deutschen Reich würde dagegen ausgeblendet. Auch in der eigenen Familie erlebt er das so.
Noch studiert Mattéo Pacaud in Nancy Chemieingenieurwissenschaften, aber seine Zukunft sieht er in Deutschland. Zum einen rechnet er sich bessere Berufschancen in der starken deutschen Chemieindustrie aus, zum anderen macht ihm der zunehmende Rechtsextremismus in Frankreich Angst. Zwar habe auch die AfD zugelegt, doch das Gros der Deutschen distanziere sich von rechtem Gedankengut. Für Mattéo ist klar, im nächsten Jahr wird er sein Studium in Deutschland fortsetzen. Wo? Natürlich in Berlin.
In den letzten Jahrzehnten hat eine interessante Umkehrung stattgefunden. Während lange Zeit für viele Deutsche Paris die Traumstadt Nummer eins war, ist mittlerweile Deutschland und vor allem Berlin für immer mehr Franzosen zum Sehnsuchtsort avanciert. Nach Schätzungen der Französischen Botschaft Berlin leben inzwischen 50.000 Franzosen in ihrem Zuständigkeitsbereich.