Im Tischtennis geht es buchstäblich Schlag auf Schlag. Etwa einen Monat nach der Einzel-EM in München steht für die heimischen Teams die Mannschafts-Weltmeisterschaft im chinesischen Chengdu auf dem Plan. Die Vorzeichen sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Im deutschen Tischtennis setzt sich die Zeitenwende fort. Der neue Europameister Dang Qiu und nicht mehr sein altgedienter Vorgänger sowie Idol Timo Boll führt das deutsche Team bei der Mannschafts-WM am Monatsende in Chengdu in den Titelkampf mit dem Gastgeber und haushohen Titelfavoriten. Blieben Boll und auch sein langjähriger Weggefährte Dimitrij Ovtcharov im Schatten von Qius Coup bei der EM im vergangenen August erstmals seit 2005 ohne eine Einzelmedaille bei kontinentalen Championaten, gehört im Reich der Mitte sogar erstmals seit der WM vor 27 Jahren im ebenfalls chinesischen Tianjin keiner der beiden früheren Weltranglistenersten zum Aufgebot des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) bei Welttitelkämpfen. Weil neben dem vor der EM lange verletzten Top-Duo auch der im EM-Verlauf erstmals Vater gewordene Top-20-Star Patrick Franziska von Pokalsieger 1. FC Saarbrücken-TT pausiert, tritt die Mannschaft von Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf ohne das komplette Silber-Trio von den Olympischen Spielen vor Jahresfrist in Tokio an. Bei seinem „Härtetest als Führungsspieler", wie der DTTB das Turnier für Qiu bezeichnet, erhält der Penholderspieler Unterstützung von seinen Mannschafts-Europameisterkollegen und Doppelpartner Benedikt Duda, Ex-Meister Ricardo Walther sowie den Youngstern Kay Stumper und Fanbo Meng.
Boll und Co. verzichten auf die WM in China
Die Nominierung will DTTB-Sportdirektor Richard Prause trotz ihrer Anzeichen einer Zäsur „natürlich nicht" als Generationswechsel verstanden wissen: „Wir nehmen die junge Generation schon einmal in die Pflicht", erläuterte Prause die Anwendung „einer anderen Strategie". Roßkopf will seinen Spielern durch „frühzeitige Verantwortung" vermitteln, „mit Drucksituationen umzugehen". Aufgrund der Struktur im WM-Kader kann der frühere Doppelweltmeister damit neben dem 25 Jahre alten Düsseldorfer Qiu nur den sechs Jahre jüngeren Jugend-Europameister Stumper und den 21 Jahre alten WM-Debütanten Meng meinen. Durch den Verzicht auf das erfahrene Spitzentrio – Boll ist 41, Ovtcharov und Franziska 30 Jahre alt – sank das Durchschnittsalter in Roßkopfs Mannschaft von 31,6 gleich um sieben Jahre – fast eine Spielergeneration – auf 24,6 Jahre.
„Jugend forscht" war dagegen im Damen-Bereich nur ein Randthema. Die 16 Jahre alte U19- und U21-Europameisterin Annett Kaufmann feiert in Chengdu ihr WM-Debüt im Team von Bundestrainerin Tamara Boros. Einmal mehr aber führen die schon 39 Jahre alten Topspielerinnen Han Ying und Shan Xiaona den Kader um die 14 Jahre jüngere EM-Zweite Nina Mittelham an. Die ehemalige Europameisterin Petrissa Solja musste ihre Teilnahme wie schon für München aufgrund von Bandscheibenproblemen absagen. Qiu will bei den Herren das WM-Turnier auch als persönliche Herausforderung annehmen. „Bei einer WM gerade in China die Nummer eins des deutschen Teams zu sein, ist ein schönes Gefühl. Das Vertrauen von ‚Rossi‘ nehme ich dankend an, aber auch wenn ich mir das in den vergangenen Wochen und Monaten hart erarbeitet habe, weiß ich auch, dass ich mich bei der WM wieder von Neuem beweisen muss."
Qiu glaubt an die Stärke des Teams
Nur von seinem frischen EM-Lorbeer allein will der Rechtshänder in Chengdu nicht zehren. „Ich weiß, dass es für eine erfolgreiche WM mehr braucht als einen starken Spieler. Man muss als Mannschaft zusammenhalten und gut spielen", meint Qiu. Für seine ungewohnte Rolle als Anführer will sich der gebürtige Nürtinger nicht zuletzt auf jahrelangen Anschauungsunterricht von Boll und Ovtcharov stützen: „Ich konnte mir von beiden sicher einiges abgucken. Wie sie das gemacht haben, verdient größten Respekt." Doch vor allem auch sportlich kann sich die Bilanz der vergangenen Jahre mit den beiden Leitwölfen sehen lassen. Boll und Co. kamen bei den fünf vergangenen Mannschafts-Wettbewerben auf WM-Ebene gleich viermal bis ins Finale. Lediglich 2016 in Kuala Lumpur enttäuschte Roßkopfs Mannschaft und landete nur auf dem 13. Rang, nachdem Ovtcharov wegen einer Rückenverletzung fehlte und Boll nach nur zwei Einsätzen wegen einer heftigen Erkältung vorzeitig die Heimreise antreten musste. Eine ähnliche Bauchlandung wie vor sechs Jahren befürchtet Qiu für Chengdu allerdings nicht. „Die Mannschaft", meint der Deutsche Meister schon ganz der Frontmann, „die Mannschaft hat Potenzial." Auch Prause macht eine Medaille für Chinas Dauerrivalen angesichts der personellen Veränderungen im deutschen Team nicht zur Vorgabe. „Wir bringen eine schlagkräftige Mannschaft an den Tisch, die im Optimalfall um vordere Platzierungen spielen kann", dämpfte der ehemalige Nationalspieler bei der Nominierung die Erwartungen.
Zumal die DTTB-Teams immer auch noch Ausfälle durch Corona-Infektionen zu befürchten hat – gerade in Chengdu. Denn am WM-Schauplatz mit seinen über 21 Millionen Einwohnern riefen die chinesischen Behörden erst zu Monatsbeginn wegen massiv gestiegener Fallzahlen für zunächst zwei Wochen den größten Lockdown in ihrem Land seit der hermetischen Abriegelung von Shanghai und der extremen Isolierung seiner Bevölkerung im vergangenen Frühjahr aus. Obendrein bebte rund um die WM-Stadt weniger als vier Wochen vor dem WM-Auftakt die Erde. Eine Absage wie beim 2020 und im Vorjahr ausgefallenen WM-Turnier im südkoreanischen Busan allerdings kam weder für die chinesischen Organisatoren noch für den nach Corona weiterhin nicht völlig trittsicheren Weltverband ITTF in Betracht. Die Verlegung der ursprünglich für das Frühjahr geplant gewesenen Titelkämpfe war das größtmögliche Zugeständnis aller Verantwortlichen.
Erneuter Lockdown in China
Die WM mit ihren mehr als 1.000 Teilnehmern soll die erste große internationale Sportveranstaltung in China seit den Olympischen Winterspielen zu Jahresbeginn in Peking werden und ist deswegen eine Prestigeobjekt. Im Gegensatz zu den prestigeträchtigen Titelkämpfen in der chinesischen Volkssportart Tischtennis hatten die Behörden im Reich der Mitte seit dem Olympia-Abschluss zahlreiche Großereignisse wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie abgesagt. Zu den im Zuge von Chinas Null-Covid-Politik abgesetzten oder zumindest verschobenen Prestige-Events gehörten bereits die Asienspiele, die Asienmeisterschaft im Fußball, die Welthochschulspiele oder zuletzt erneut die für 2023 geplante Hallen-Leichtathletik-WM.
Für die Tischtennis-WM Chengdu planen die Organisatoren mit einer „Bubble" vergleichbar der Olympia-Blase in Peking. Laut Prause sollen Aktive und Delegationsmitglieder sich in den abgeschirmten Hotels und dazugehörigen Grünanlagen jedoch weitgehend uneingeschränkt bewegen können. Die Einnahmen der Mahlzeiten sind für die teilnehmenden Mannschaften jeweils gemeinsam in großen Sälen geplant. Auch für die vorgeschriebenen Corona-Tests sind in den Unterkünften besondere Bereiche ausgewiesen.
Ein unmittelbares Risiko einer Corona-Infektion sieht Prause für die Aktiven trotz der kritischen Situation in der WM-Stadt nicht. „Unseren Informationen zufolge ist der Bezirk in Chengdu, in dem die Halle und die Hotels liegen, nicht von dem Lockdown betroffen", berichtete der 54-Jährige über seine Erkenntnisse: „Die Konzepte der Organisatoren zur Vermeidung von Infektionen wirken auch sehr schlüssig." Auch für den Fall positiver Testergebnisse soll WM-Teilnehmern eine zeitnahe Ausreise anstelle einer langwierigen Quarantäne möglich sein, wie Prause weiter erläuterte.
Aufgrund der alles andere als idealen Rahmenbedingungen konnten der DTTB und andere Verbände ihre Planungen für die Anreise nach China anders als gewohnt erst wenige Wochen vor Turnierbeginn abschließen. Dabei musste die ITTF sogar Charterflüge ab Dubai organisieren und auch subventionieren, weil die Kosten für üblicherweise genutzte Linienflüge ins Reich der Mitte durch die Streichung der meisten Verbindungen geradezu explodiert waren und selbst für Organisationen wie den DTTB nicht zu stemmen gewesen wären.