Die Zahl der Geflüchteten in Deutschland erreicht einen Höchststand. Die Lage wird schwieriger und angespannter, die Sorgen der Menschen nehmen zu. Der Vergleich mit der sogenannten Flüchtlingswelle 2015 hilft nur bedingt angesichts der neuen Herausforderungen.
Kommunen am Limit, Aufnahmestopp, weil Kapazitäten nicht mehr ausreichen. So viele Flüchtlinge wie im Rekordjahr vor acht Jahren. Und über allem die Überschrift in Anlehnung an das berühmte Zitat von Angela Merkel: „Schaffen wir das?“
Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine war klar, dass Menschen in großer Zahl vor Bombardement und Kriegsterror fliehen werden. Die systematische Zerstörung der Infrastruktur vor den Wintermonaten zeigt Russlands Absicht, Menschen zu vertreiben: Flüchtlingsströme als Kriegstaktik zur Destabilisierung der EU.
Bis Anfang November waren nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge etwas über eine Million geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland angekommen. Rechnet man die bis zu diesem Zeitpunkt registrierten über 180.000 Asylanträge von Menschen aus anderen Herkunftsländern dazu, dann dürfte klar sein, dass die Zahl der Geflüchteten in Deutschland bis Jahresende den bisherigen Höchststand von 2015 übersteigen wird.
Die Entwicklungen in jenem Jahr sind hinreichend bekannt, ebenso die dadurch ausgelösten Diskussionen. Die folgen in vielen Fällen bekannten Mustern.
Aber schon der zweite Blick zeigt: Die Zahlen und Daten ähneln zwar denen, als Deutschland zuletzt besonders gefordert war; vieles erinnert auch an damalige Situationen; trotzdem lassen sich die Situationen nicht einfach eins zu eins vergleichen.
Das liegt nicht nur an dem Grund für die große Zahl der Geflüchteten, nämlich dem Krieg Putins gegen die Ukraine. Den Hauptanteil machen zwar die Kriegsflüchtlinge aus, aber auch die Zahl der Asylbewerber anderer Herkunft ist in diesem Jahr wieder gestiegen. Bis Oktober wurden etwas über 180.000 Asylanträge verzeichnet. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt etwas mehr als 150.000. Der Zuwachs liegt also bei gut 20 Prozent – aber die Gesamtzahl der bisherigen Asylanträge liegt noch im unteren Bereich des Korridors, auf den sich Union und SPD 2018 nach intensivem Streit über eine Obergrenze verständigt hatten. Diese Obergrenze sollte bei 200.000 liegen (mit einem Korridor von 180.000 bis 220.000).
Destabilisierung durch Flüchtlinge als Waffe
Mit einem Anstieg war ohnehin, unabhängig vom russischen Angriffskrieg, gerechnet worden, da zuvor die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen auch Auswirkungen auf die Migration hatte. Die weltweiten Einschränkungen führten auch zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen. Zudem blieben viele Flüchtlinge zunächst dort hängen, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt befanden. Dass sie sich später insbesondere über die Balkanroute wieder auf den Weg machen würden, war von den meisten Experten so vorausgesagt.
Dass Putin Flüchtlinge als Waffe einer hybriden Kriegsführung einsetzen würde, war zu ahnen, nachdem bereits der von Russland abhängige belarussische Diktator Lukaschenko gezeigt hatte, dass er bereit ist, Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU einzusetzen. Nach der Zerreißprobe der EU beim ersten großen Flüchtlingszuzug war es naheliegend, auf diesem Weg zu versuchen, weiter Keile zwischen EU-Mitgliedsstaaten zu treiben.
Das Kalkül wurde vermutlich auch durch die Spekulation genährt, dass die EU nach zwei Jahren Pandemie einer Herausforderung durch Millionen Flüchtlinge wenig entgegenzusetzen hätte.
Die EU bewies aber zunächst das Gegenteil. Für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wurde im Eiltempo ein Status geschaffen, der eine schnelle Aufnahme ohne langwierige Asylverfahren ermöglichte. Und Mitgliedsstaaten, die zuvor in Flüchtlingsfragen eher eine Abwehrhaltung einnahmen, zeigten überraschend große Aufnahmebereitschaft, allen voran Polen, aber auch andere Anrainerstaaten der Ukraine.
Das Verfahren für ukrainische Kriegsflüchtlinge hat aber eine Kehrseite, schafft es doch, wie Kritiker und Praktiker sagen, so etwas wie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Denn alle anderen Geflüchteten müssen nach wie vor das übliche Asylverfahren durchlaufen.
Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR sind bis Anfang November etwa 15,3 Millionen Menschen wegen des Krieges in der Ukraine auf der Flucht, knapp die Hälfte davon ins Ausland, die andere Hälfte als Binnenvertriebene im Land selbst. Für die werden aber die Bedingungen durch die andauernden Raketenangriffe auf die Infrastruktur, die das Land zum Winter möglichst unbewohnbar machen sollen, immer unerträglicher.
Weltweit schätzt der UNHCR die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen auf 103 Millionen. Gegenüber dem Vorjahr ein Zuwachs von 15 Prozent – und damit genau die Größenordnung, die durch Russlands Krieg ausgelöst wurde.
Hierzulande sind die Aufnahmekapazitäten inzwischen längst an ihre Grenzen gestoßen. Während in der ersten Zeit ukrainische Flüchtlinge vergleichsweise schnell auf Kommunen verteilt werden konnten, ist dort das Limit erreicht. In zunehmend mehr Kommunen gibt es einen praktischen Aufnahmestopp. Zeltstädte werden aufgebaut, Containerunterkünfte, Hotelzimmer angemietet. Flächendeckende Belegungen von Hallen sollen, wenn irgend möglich, vermieden werden. Eine Lehre aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Bürokratische Hürden, teils verstärkt durch Personalmangel in Behörden und Ämtern, machen die Entwicklung nicht einfacher, vor allem auch für Flüchtlinge aus anderen Herkunftsländern.
Hilfsbereitschaft hat nachgelassen
Je mehr die Menschen hierzulande die Folgen des Ukraine-Krieges selbst direkt zu spüren bekommen (Energiepreise, Inflation, drohende Rezession), umso mehr hat auch die anfängliche große Hilfsbereitschaft nachgelassen. Dazu beigetragen hat auch die Dauer des Krieges. Viele, die zunächst Kriegsflüchtlingen Wohnraum zur Verfügung gestellt haben, taten dies als erstes Hilfsangebot, aber nicht als Dauerlösung für unbestimmbare Zeit.
Auch die Einstellungen ändern sich schleichend mit der Entwicklung. In einer Umfrage des MDR gab ein Drittel der Befragten in Mitteldeutschland (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) an, ihre Hilfsbereitschaft sei zuletzt geringer geworden (42 Prozent sagten: unverändert), und 80 Prozent der Befragten in diesen Ländern äußerten die Befürchtung, es könne eine Anti-Flüchtlings-Stimmung um sich greifen.
Deutschlandweit nimmt in der Bevölkerung der Wunsch zu, es möge deutlich mehr Initiative auf diplomatischem Weg zur Beendigung des Krieges geben. Bei der Frage nach den größten Sorgen zeigt sich aber, dass die Angst, Russland könnte noch weitere Staaten überfallen, deutlich größer ist als die Sorgen aufgrund der Zuwanderung. Größer ist auch die Sorge vor den Folgen explodierender Preise – gleichauf auf Platz eins mit der Sorge, dass der Klimawandel unsere Lebensgrundlagen zerstören könnte. Was nach allen Prognosen die Flüchtlingsproblematik weiter verschärfen wird.