Mit der Wahl des ultralibertären Javier Milei in Argentinien steuert das Land auf eine ungewisse Zukunft zu. Mileis Credo: Austerität, eine strenge Sparpolitik und eine radikale Kürzung des Sozialstaates.
Kaum hatte der neue Präsident Argentiniens, der radikalliberale Javier Milei, sein Amt übernommen, braute sich ein Sturm in der südlichsten Republik Lateinamerikas zusammen. Allein in der Küstenstadt Bahía Blanca starben 13 Menschen, als ein Sporthallendach zusammenstürzte. Strom fiel aus, Bäume und Strommasten kippten um.
Das ungewöhnliche Sommerunwetter war wie ein Symbol für den Zustand des hochverschuldeten Landes, dessen Menschen unter 140 Prozent Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit leiden. Die Armutsrate beträgt fast 45 Prozent. Dazu drückt eine Auslandsschuld von nahezu 300 Milliarden US-Dollar. Allein beim Internationalen Währungsfonds steht Argentinien mit rund 44 Milliarden US-Dollar in der Kreide.
Die linke Vorgängerregierung hatte sich unter anderem mit Krediten aus China und den Vereinigten Arabischen Emiraten über die Runden gerettet – erfolglos. Nun setzt der Ökonomieprofessor und Fachbuchautor Milei, im Bündnis mit der konservativen Partei des Expräsidenten Mauricio Macri auf extreme Mittel, um aufzuräumen. Die Staats- und Sozialausgaben werden so stark zurückgefahren, wie es weltweit noch kaum eine Regierung gewagt hat, um die Staatsausgaben um fast 3 % des BIP zu senken. Die Pensionen von Richtern und Politikern sollen zusammengestrichen werden. Jeder wusste es: Im Wahlkampf war die Kettensäge das Symbol Mileis gewesen.
Dass er keine Symbolpolitik betreiben wird, hat der neue Staatschef denn auch sofort nach der Vereidigung klar gemacht. Statt 18 gibt es nur noch neun Ministerien. Darunter befindet sich das neue Superressort Humankapital, das die Bereiche Bildung, Kultur, Arbeit, Frauen und soziale Entwicklung umfasst. Es wird geführt von Sandra Pettovello, einer 55jährigen Journalistin und Wissenschaftlerin, die sich in ihrem LinkedIn-Profil als „Spezialistin für Familien- und Sozialfragen“ bezeichnet. Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung hat sie nicht.
„Es wird schlechter, bevor es besser wird“
Milei, der auch keine Administrativkenntnisse hat und die kleine libertäre Parteienkoalition La Libertad Avanza anführt, ist als politischer Außenseiter mit 56 Prozent gewählt worden, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt – auch nicht in seiner Antrittsrede. Anders als übliche Populisten versprach er dem Volk nicht das Blaue vom Himmel herunter: „Kurzfristig wird es noch schlechter werden, bevor es besser wird,“ warnte er und bat die Bürger um 18 bis 24 Monate Geduld, bis die Reformen greifen würden: „Es gibt keine Alternative zur Austerität.“ Tatsächlich steigen die Preise für Lebensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und andere Dienste derzeit rapide.
Vor Weihnachten bereitete Milei den 46 Millionen Argentiniern die erste unangenehme Bescherung. Er ließ den „Notstand des nationalen Energiesektors“ ausrufen. Das beinhaltet eine “Tarifüberprüfung“ für alle Erbringer öffentlicher Dienstleistungen, den Austausch von Führungspersonal im maroden staatlichen Stromsektor und die Überprüfung aller Subventionen – Privatisierung ist das Endziel. Dazu gehört auch die defizitäre Fluglinie Aerolíneas Argentinas, die Milei der Belegschaft zur Übereignung anbietet.
Argentinien sei auf dem Weg zum Land des Super-Kapitalismus, analysieren Beobachter. Sollten die Bemühungen des neuen Präsidenten erfolgreich sein, dann winke aber eine boomende Wirtschaft mit Vorteilen für alle: Investitionen, Arbeitsplätze, Steuereinnahmen.
Erwartungsgemäß glaubt nicht jeder in Argentinien an den Erfolg der wirtschaftlichen Schocktherapie. Schon zehn Tage nach Amtsantritt führten gewerkschaftlich initiierte Demonstrationen zur ersten Kraftprobe. Redner sprachen bei Kundgebungen in Buenos Aires von einem „Anpassungs- und Elendsplan“ der Regierung und einer „Kriegserklärung gegen die tariflichen, sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterschaft und des Volkes“.
Knallhart geht unterdessen die neue Innenministerin Patricia Bullrich gegen die Protestwelle vor. Die 67jährige, die den Job schon unter Macri innehatte und im Präsidentschaftswahlkampf als Dritte durchs Ziel gegangen war, will notfalls sämtliche Sicherheitsdienste mobilisieren, um Proteste wie die traditionellen Straßenblockaden koordiniert aufzulösen. Die Befugnisse der Polizei sind massiv erweitert worden. Identifizierte Demonstranten sollen die Kosten des Polizeieinsatzes tragen. Teilnehmende Personen mit begrenztem Aufenthaltsstatus werden abgeschoben und Eltern von Minderjährigen strafrechtlich verfolgt.
Außenpolitisch fährt Milei den Gegenkurs zu der linken Vorgängerregierung. Bei einem ersten Besuch in Washington betonte Milei seine „historische Nähe zu den USA, Israel und dem Westen“. Folgerichtig hat er den schon vereinbarten Beitritt zu den BRICS-Staaten, die ein Gegengewicht zur G7-Gruppe sein möchten, zurückgezogen, . Vor allem China und Russland hatten das Schwellenland Argentinien dazu eingeladen. Doch Wirtschaftswissenschaftlerin Diana Mondino als Außenministerin sagte, der Beitritt habe „keinen Nutzen“. Sie wünscht ein baldiges Abkommen zwischen der südamerikanischen Ländergruppe Mercosur und der Europäischen Union.
Absage an die BRICS-Staaten
Die Beziehungen Argentiniens zu Moskau werden unterdessen zurückgefahren. Milei steht auf Seiten der Ukraine. Deren überraschend zur Amtseinführung erstmals nach Südamerika eingeflogene Präsident Wolodymyr Selenskyj erhielt ungewöhnlicherweise vom Gastgeber einen jüdischen Silberleuchter überreicht. Israel steht auf Mileis Antrittsreiseliste ganz oben, er sympathisiert offen mit einem Übertritt zum Judentum.
Der neue Kurs Argentiniens wird weltweit mit Spannung verfolgt. Selbst der Kreml hat sich schon eingemischt. Präsident Wladimir Putin kommentierte die mögliche Dollarisierung Argentiniens mit den Worten: „Das ist ein erheblicher Verlust an Souveränität“, der “schwerwiegende sozioökonomische Folgen“ haben könnte. Ob es aber tatsächlich zur Abschaffung der nationalen Währung Peso kommt, ist inzwischen ebenso fraglich wie die ursprünglich beabsichtigte Schließung der Zentralbank. Milei hat jedenfalls mit dem Ex-Finanzminister Santiago Bausili einen neuen obersten Währungshüter ernannt, einen Verbündeten des frisch gekürten Wirtschaftsministers Luis Caputo, der selbst einmal kurz die Zentralbank geleitet hatte. Mehr Sympathien für Milei als Putin lässt indessen der saarländische FDP-Bundespolitiker Oliver Luksic erkennen. „Ein aufmerksamer Blick auf Argentinien in den kommenden Monaten und Jahren lohnt sich auf jeden Fall,“ meinte der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium auf Instagram. Es sei zu kurz gedacht, Milei Rechtspopulismus und sogar Rechtsextremismus vorzuwerfen. Tatsache ist allerdings, dass Mileis Stellvertreterin Victoria Villarruel (48) eine glühende ultrakonservative Nationalistin ist und sich ebenso wie die ernannte Bildungsstaatssekretärin Maria Eleonora Urrutia als Leugnerin der Verbrechen der Militärdiktatur (1976 – 1983) hervorgetan hat.
Das Reformlabor Argentinien, dessen Motto Mileis Slogan “¡Viva la libertad, carajo!” (Es lebe die Freiheit, verdammt!“ ist – dürfte erstmal kräftig weiter am Brodeln bleiben. Die gleich zu Anfang stürmischen Zeiten verheißen dem einst belächelten Radikalliberalen scharfen Gegenwind. Dennoch könnte Milei zu einer Art Maradona der argentinischen Politik werden. Der geniale Fußballspieler war auch kein Anpassertyp: Immer authentisch, hart umstritten und dennoch heldisch verehrt. Sollte Milei trotz aller Widerstände sein Land aus der Krise führen, könnte er eine ähnliche Figur werden. Aber dafür muss Milei nun Siege liefern. So, wie Maradona Tore.