Kolonialisierung, Krieg, Klimakrise: Alle drei Phänomene sind vom Menschen gemacht und unmittelbar voneinander beeinflusst. Prof. Dr. Ernst Ulrich Weizsäcker, Umweltwissenschaftler und Entwicklungspolitiker, glaubt daran, dass Europa aus seinen Fehlern lernen kann – mithilfe einer „neuen Aufklärung".
Prof. Dr. Weizsäcker, schon vor dem Krieg war klar, dass es mehr erneuerbare Energien braucht. Warum macht Deutschland erst jetzt Tempo?
Während der sogenannten Globalisierung der Wirtschaft nach 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges, galt im Grunde in allen Ländern der Welt nur noch die Kapitalrendite. Wenn jemand aus gutmütigen Gründen sagt, wir müssen mit Russland – das durch das Ende des Kalten Krieges gelitten hat – wieder Freundschaft schließen und russisches Gas kaufen, und das dann auch noch billiger ist als alles andere, dann gewöhnen sich die Wirtschaft und der einzelne Haushalt daran. Die Verschwendung von Energie hat in diesen über 30 Jahren ständig zugenommen. Weil Energie tendenziell – wie übrigens schon in den 20 vorherigen Jahrzehnten –
immer billiger geworden ist. Das war für das Klima eine Katastrophe und für das Wohlbefinden wunderbar. Und jetzt müssen wir dafür sorgen, dass wir künftig auch bei relativ niedrigen Preisen die Verschwendung herunterfahren. Und denjenigen Teil der Energie, den wir nicht herunterfahren können, müssen wir mit erneuerbaren Energien besorgen und nicht mehr mit Fossil- und Atomenergie. Denn inzwischen hat durch reine Verbilligung an vielen Stellen der Welt die erneuerbare Energie gewonnen. Und bei uns kommt das noch.
Sie sagen, das Weltgefüge hat sich nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine verändert, was sich auch auf den Globalen Süden auswirkt, insbesondere Afrika. Können Sie das erläutern?
Der Nord-Süd-Konflikt ist eigentlich ein mindestens 30, wenn nicht 100 Jahre altes Phänomen. Bei den Vereinten Nationen gibt es in jeder Sachfrage einen Streit zwischen Süd und Nord. Das betrifft auch die sogenannten Sustainable Development Goals, die 17 Ziele der Nachhaltigkeit: Der Süden will vor allem die Ziele eins bis elf und der Norden die Ziele 13 bis 15. Der Süden will Wachstum, der Norden will Klima, Ozeane und Biodiversität. Darüber gibt es einen riesen Streit, doch das hat alles noch gar nichts mit der Ukraine zu tun. Dazu kommt nun noch der plötzliche Sturzflug der Exportfähigkeit der Ukraine an Weizen. Das führt zu Hungersnöten, insbesondere im östlichen Afrika. Das ist zunächst einfach eine Tatsachenbeschreibung. Aber wenn ich an die Klimaverhandlungen denke, beispielsweise die Weltklimakonferenz in Cancún vor etwas über zehn Jahren, da hat der Norden dem Süden zur Verkraftung der globalen Erwärmung und zum eigenen Klimaschutz 100 Milliarden Dollar pro Jahr versprochen. Darauf drängt der Süden bei jeder Klimakonferenz, und der Norden sagt, er wäre noch nicht so weit. Jetzt im Ukraine-Krieg ist es fraglich, woher diese 100 Milliarden kommen sollen. Das ist nicht so einfach für den Norden. Wenn man mit den Vertretern von Paraguay oder Kamerun oder irgendeinem anderen Entwicklungsland über Klima redet, dann sagen die ganz entrüstet: „Das ist doch nicht unser Problem. Ihr habt es doch angerichtet. Ihr müsst das Klima retten. Uns müsst ihr nur helfen, dass wir die Klimaveränderungen finanziell einigermaßen stemmen können."
Es gibt ein paar Ausnahmen, wie die pazifischen Inseln, die einfach im Meer versinken, wenn der Meeresspiegel weiter steigt. Die haben natürlich auch ein Eigeninteresse am Klimaschutz. Aber das ist die Minderheit. Wir müssen zusehen, dass wir auch mit den Entwicklungsländern wieder auf eine neue, freundschaftliche, ökonomisch vernünftige Weise kooperieren.
Welche Verantwortung trägt der Norden für die Klimakrise?
Wir Europäer haben über 1.000 Jahre schlimme Handlungen, um nicht zu sagen Verbrechen, am Süden verübt, und zwar durch die Kolonialisierung. Wenn ich mit Afrikanern über Europa rede, kommt spätestens beim zweiten Satz: „Ihr habt Afrika zugrunde gerichtet, um die Bodenschätze auszuräubern, das Land zu bekommen, uns die Sprache überzustülpen. Ihr habt eine Menge gutzumachen."
Aber wie?
Es gibt Dinge, die wir tun können. Dazu gehören diese 100 Milliarden, aber man kann noch weitergehen. Es gibt den sogenannten Budgetansatz für Klimaschutz. Er wurde im Jahr 2009 vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) formuliert und von Kanzlerin Merkel auf der Klimakonferenz in Kopenhagen auf den Weg gegeben. Der Ansatz funktioniert folgendermaßen: Wir Wissenschaftler rechnen aus, wie viel klimaschädigende Gase wir noch ausstoßen dürfen, damit die Erdtemperatur nicht mehr als 1,5 Grad steigt. Das ist dann das Budget. Alle Länder der Welt bekommen ein der heutigen Bevölkerung pro Kopf gleich großes Anrecht auf Schädigung der Atmosphäre. Die alten Industrieländer haben dieses Budget im Wesentlichen schon verfrühstückt. Jetzt müssten wir in Paraguay oder Kamerun oder sonstwo darum bitten, dass diese uns Lizenzen verkaufen. Denn die haben noch eine ganze Menge. Wenn diese Länder darauf eingehen würden, dann würden deren Wirtschaftsminister, die heute die Hauptauftraggeber für neue Kohlekraftwerke und Ölbohrungen in diesen Ländern sind, erkennen, dass sie reicher werden, wenn sie weniger Kohle verbrennen. Und dann kommen Norden und Süden friedlich zusammen mit gemeinsamen ökonomischen Vorteilen und Klimavorteilen.
In diesem Kontext sprechen Sie auch von der „neuen Aufklärung". Was kann man sich darunter vorstellen?
Wir müssen uns eingestehen, dass die fünf Jahrhunderte der alten Aufklärung gleichzeitig ein Rechtfertigungsmittel für die Kolonialisierung der Welt waren. Wir Europäer saßen auf dem Thron und haben gesagt: „Die da unten können ja noch nicht einmal lesen und schreiben. Wir müssen die zivilisieren." Das hieß dann de facto mit Waffengewalt. Die alte Aufklärung war politisch vergiftet, auch wenn sie für Wissenschaft und Technik großartig war. Aber man muss auch noch ein paar andere Schwachstellen nennen, wie ich es in meinem Buch „So reicht das nicht" beispielsweise tue. Dazu zählen übermäßiger Individualismus und Materialismus, reiner Rationalismus ohne Moral, übermäßiger Reduktionismus, also eine reduzierte Betrachtung von Einzelbestandteilen, und übermäßiger Empirismus. Empirismus bedeutet aus einleuchtenden Gründen nur über die Vergangenheit zu reden, aber nicht über die Zukunft. Denn über die Zukunft gibt es keine Empirie. Es ist natürlich für unsere Wissenskultur ziemlich jämmerlich, dass man nur gelten lässt, was in der Vergangenheit war.
Wir müssen dahin kommen, aus der Vergangenheit und den eigenen Fehlern für die Zukunft zu lernen. Eine Balance zwischen Kurzfristigkeit und Langfristigkeit. Die heute in der Wissenschaft geübte Genauigkeit ist fast immer kurzfristig. Eine Balance zwischen Staat und Markt. Während des Kalten Krieges hat noch der Staat dominiert und als der Kommunismus weg war, haben nur noch die Finanzmärkte regiert. Die Folge davon ist, dass der Staat erpresst wird, sich nach dem Gefallen der Finanzmärkte zu richten. Eine Balance zwischen Mann und Frau, zwischen Natur und Mensch. Im Anthropozän beherrscht der Mensch die Natur und zerstört sie gleichzeitig. Die neue Aufklärung soll insgesamt mehr Balance als Rechthaberei produzieren. Das macht uns als Zivilisation gescheiter, ansprechbarer und weniger überheblich. Und es bedeutet eine neue Sorte von Wissenschaft.
Denken Sie, insbesondere die Europäerinnen und Europäer sind in der Lage, ihre eigenen Fehltritte zu reflektieren und dann nicht bloß Lippenbekenntnisse abzulegen, sondern ernsthaft Verantwortung für ihr Handeln zu tragen?
Das ist eine großartige Frage. Und meine Antwort darauf fällt positiv aus, aber ich habe es auch leichter als Mitglied des Club of Rome. Wir haben den Vorzug, ständig mit Leuten aus aller Welt zusammenarbeiten. Meine Nachfolgerin als Co-Vorsitzende des Club ob Rome ist eine Südafrikanerin und die andere Ko-Vorsitzende ist eine Belgierin, die aber in den USA groß geworden ist. Das heißt, ich kenne die typischen Meinungen von Afrikanern, von Frauen und beispielsweise auch von Chinesen, denn ich war relativ viel in China. Für mich ist das Ganze keine Trivialität, aber eine leistbare Aufgabe. Aber die Wählerinnen und Wähler der AfD beispielsweise, die kennen ja nur Deutschland. Und die finden alles andere schäbig, was natürlich eine groteske Verunstaltung der menschlichen Tugend ist. Der Nationalismus war über Jahrhunderte immer der Auslöser von Kriegen. Aber heute brauchen wir Frieden. Putin sitzt auch immer noch im 19. Jahrhundert.
Sie setzen Ihre Hoffnung in die junge Generation. Bei den derzeit parallel ablaufenden Krisen ist es als junger Mensch nicht leicht, die Kraft und die Resilienz aufzubringen, gegen alte, festgefahrene Strukturen vorzugehen. Was raten Sie jungen Menschen, damit ihnen nicht der Mut ausgeht?
Aus meiner Perspektive kann ich sagen: Als ich ein Kind war, fielen noch die Bomben auf Deutschland. Dann kam die sehr kümmerliche Nachkriegszeit, in der man froh war, wenn man Brot kaufen konnte. Dann sind beispielsweise meine Eltern fleißig daran gegangen, zu arbeiten und mit dazu beizutragen, dass die üblen Zustände von 1939 bis 1945 sich nie wiederholen. Insofern habe ich das Gefühl, wenn ich mit jungen Leuten spreche: So schlimm wie es schon einmal war, ist es ganz sicher nicht. Und wenn wir es vernünftig schaffen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren, dann wird das alles doch eher besser. Aber wir müssen immer das wachsame Auge haben gegenüber denen, die eigentlich die Zerstörung wollen, wie beispielsweise Putin. Das heißt, wir müssen uns gemeinsam auch politisch anstrengen, dass das Ganze nicht in die falsche Richtung läuft.