Johannes Oerding singt Songs, in denen er nicht nur sich selbst, sondern auch die Gesellschaft scharf analysiert. Sein neuestes Album trägt den Titel „Plan A“. Wir erfuhren von ihm, wie er mentale Stärke erlangt, was er seinem Vater zu verdanken hat und wo er seine Partnerin Ina Müller kennenlernte.
Herr Oerding, das Lied „Was wäre wenn“ enthält Anspielungen auf Friedenshymnen wie „99 Luftballons“ von Nena und John Lennons „Imagine“. Welche Bedeutung hat Kunst in der heutigen Zeit?
Kunst hat heutzutage die gleiche Bedeutung wie zu jeder anderen Zeit. Sie kann Leute anpieksen, Diskussionen auslösen, Haltungen deutlich machen. Für mich persönlich hat sie in diesem Lied die Funktion einer Erinnerungsstütze. Wenn ich mich schon über gewisse Dinge aufrege, dann muss ich auch ein Teil der Veränderung sein. Ich muss hier und da meine Verantwortung als Künstler wahrnehmen. Wenn man dann auch die guten und richtigen Dinge vertritt – die nicht immer leicht herauszufinden sind –, kann man Menschen durchaus mitnehmen.
In „Porzellan“ geht es um Depressionen und Panikattacken. Haben Sie an sich selbst oder Ihrem Umfeld beobachtet, dass viele Künstler mit Stress und Ängsten zu kämpfen haben?
Sowohl als auch. Von den Unsicherheiten der letzten Jahre sind wir alle irgendwie getroffen und betroffen. Das Gefühl, nicht systemrelevant zu sein, hat bei vielen Künstlern und Künstlerinnen etwas ausgelöst, einige sind auf der Strecke geblieben und können heute nicht mehr ihrer Leidenschaft nachgehen. Das Schlimmste, was der Gesellschaft passieren konnte, war, dass gerade der Kultursektor unter die Räder kam. Wir waren die ersten, die pausieren mussten und die letzten, die wieder durften. Wir haben immer noch keine normalen Verhältnisse; keiner kann uns sagen, ob eine Tournee wie gewohnt stattfindet. Diese ganze Unsicherheit und Angst überträgt sich auch auf die Zuhörenden.
Was haben Sie in diesen unsicheren Zeiten über Ihre eigene Psyche herausgefunden?
Ich habe vor allen Dingen das neue Wort Resilienz kennengelernt. Ehrlich gesagt habe ich diese Widerstandsfähigkeit bei mir auch festgestellt und gesehen, dass der Mensch belastbarer ist als man denkt. Viele Tiefschläge haben gezeigt, dass es immer noch schlimmer werden kann, aber auch das ist zu meistern. Wir haben alle verschiedene Phasen durchlebt in der Pandemiezeit – von Aktionismus bis zu Verzweiflung. Das war nicht einfach, aber am Ende musste man sich ja etwas einfallen lassen, um nicht unter die Räder zu kommen. Ich bin sehr dankbar, dass ich als etablierter Künstler die Chance hatte, zum Beispiel ins Fernsehen zu gehen, was viele junge Kollegen und Kolleginnen nicht konnten. Und das tut mir für sie in der Seele weh.
„Stärker“ ist ein Duett mit der türkischen Sängerin Zeynep Avci. Sie gehörte 2021 zu Ihrem Team bei „The Voice“ und hatte sich in die Herzen der Zuschauerinnen und Zuschauer gesungen mit einer türkischen Version von Udo Lindenbergs „Durch die schweren Zeiten“. Wie ist es, mit ihr Musik zu machen?
Ich hätte gedacht, dass wir den Weg bei „The Voice“ noch weiter gehen, aber vielleicht ist ja ihre Musik noch zu speziell oder zu fremd. Aber genau das war für mich der Ansatz, mal kulturübergreifend Musik zu machen. Zeynep hat etwas ganz Besonderes in ihrer Stimme. Ich habe sie einen Song von Udo singen lassen, und er fand das große Klasse. Udo weiß genau, worum es bei Duetten geht.
Ist zwischen Udo und Ihnen mehr als nur eine künstlerische Freundschaft entstanden?
Das würde ich sagen. Wir haben Musik zusammen gemacht und zusammen geschrieben und halten uns abseits davon sporadisch auf dem Laufenden. Dass ich von diesem Idol einmal etwas mitnehmen kann, hätte ich mir als Jugendlicher nicht träumen lassen.
In der Ballade „Bis der Himmel uns bestellt“ geht es um Freundschaft. Wie definieren Sie eine wahre Freundschaft?
In dem Song sage ich „Unsere Freundschaft hält/Bis der Himmel uns bestellt/Und ich glaub, dass man das wohl Liebe nennt“. Damit meine ich nicht die Liebe in einer Partnerschaft, sondern die freundschaftliche Liebe zwischen zwei Kumpels. Ich stelle mir dabei immer zwei Rocker vor, die sonst nie über Gefühle reden – und dann bricht es aus ihnen heraus.
Haben Sie einen Freund fürs Leben?
Ein, zwei Jungs sind mir schon sehr wichtig. Genau die Typen, mit denen ich darüber mein Leben lang wahrscheinlich nicht sprechen werde, aber wenn sie diesen Song hören, werden sie wissen: Jau, wir haben uns gern!
Auch mit Ihrem Vater sprechen Sie über bestimmte Themen nicht. Ihm ist „Eins zu Eins-Gespräch“ gewidmet. In welcherlei Hinsicht ähneln Sie ihm?
Dass ich zum Beispiel derart Gefühle in einem Song und nicht in einem Eins-zu-ein-Gespräch verarbeiten muss, wurde mir anerzogen. Aber ich finde das auch nicht dramatisch; die Generation meines Vaters ist halt anders als meine. Wenn ich ihm dann diese Nummer vorspiele und er sich davon sehr berührt zeigt, ist das ein schönes Kompliment. Dann hat man die Sache auch geklärt.
Psychologen sagen, ein Sohn idealisiere den Vater und rivalisiere gleichzeitig mit ihm – ein Leben lang.
Das erste kommt hin, aber rivalisieren würde ich nicht sagen. Ich schaue immer noch zu meinem Vater auf, weil er einfach ein guter Typ ist und vieles richtig gemacht hat. Er hat mit Sicherheit auch Eigenschaften, die ich nicht unbedingt brauche. Aber wenn man älter wird, wundert man sich, wie viel man unbewusst von seinen Eltern übernommen hat.
Sie sind voriges Jahr 40 geworden. Was wird besser, wenn man älter wird?
Man wird gelassener. Gerade wenn man seine Schäfchen schon im Trockenen hat, wird man noch milder mit sich selbst, aber auch mit seinem Umfeld. Weil man schon viel erlebt hat, kann man gerade als Songwriter mehr Perspektiven einnehmen. Ich schreibe im Moment nicht darüber, wo ich hinwill oder wer ich sein will, sondern ich ziehe durchaus schon Bilanz.
Gestatten Sie sich Fehler?
Ich gestatte mir schon Fehler, weil die einfach passieren. Das ist nur menschlich. Ich bin zwar immer gut vorbereitet, gerade was Live-Auftritte anbelangt, aber ich bin nicht mehr so verkrampft wie früher, wenn zum Beispiel jemand um mich herum Fehler macht. Das Wichtigste ist, dass das Gefühl auf der Bühne stimmt, dass es Spaß macht und authentisch ist – selbst wenn du dich versingst, ausrutschst oder in den Bühnengraben fällst. Wichtig ist, was man daraus macht. Man muss auch über sich selbst lachen können. Ich bin heute selbstironischer als früher.
2023 wollen Sie Ihr Album auf einer Tour durch die größten Hallen vorstellen. Musiker müssen außergewöhnliche Leistungen auf den Punkt liefern – und das vor großem Publikum. Brauchen Sie dafür mentale Stärke?
Der wichtigste Unterschied, warum Menschen wie ich da oben stehen und andere nicht, ist: Ich bin sehr belastbar und kann sowohl äußerem als auch innerem Druck standhalten. Ich kann auch unter Druck kreativ, zuverlässig und handwerklich akkurat arbeiten. Das bringen meine Disziplin und mein Ehrgeiz so mit. Mich stresst es nicht, vor vielen Menschen auf die Bühne zu gehen, im Gegenteil. Es ist wie bei einem Hunderennen: Die Tiere sitzen in ihrem Gatter und sobald es aufgeht, wollen sie lospesen. Der normale Alltag stresst mich eher, wenn ich das eben nicht kann.
Wenn Sie während eines Ihrer Konzerte sehen, dass Menschen im Publikum an ihren Handys herumspielen, können Sie sich da noch konzentrieren?
Wenn das passiert, hast du als Bühnenkünstler etwas falsch gemacht! Entweder bist du ein Hingucker und die Leute hören dir zu oder aber sie schauen auf ihr Handy. Dann bist du aber auf der völlig falschen Veranstaltung gebucht worden. Das ist mir auch mal passiert. Da hat kein Mensch mir zugehört, sondern die anwesenden Männer haben einfach nur Businessgespräche geführt. Und ich stand im Hintergrund und spielte „Engel“, „Kreise“ und „Alles brennt“. Aber eigentlich ist es mein Anspruch, die Leute immer abzuholen, möglichst schon mit dem ersten Song. Das wollte ich schon damals als Vorband.
Wie haben Sie das geschafft?
Ich erinnere mich an einen guten Trick, den ich hatte, als ich immer vor Joe Cocker auf die Bühne ging. Ich wusste, die Leute haben keinen Bock auf eine Vorband, weil sie eh schon so lange gewartet hatten. Wenn du ihnen dann aber sagst: „Hallo, Aschaffenburg! Mein Name ist Johannes Oerding. Ich weiß, ich bin nicht Joe Cocker, aber er steht hinter der Bühne und kann euch hören. Also macht mal Lärm für ihn!“ Und dann war gleich Stimmung im Saal und ich konnte mit meiner Stimme und meinen Texten auch überzeugen.
Hat Joe Cocker sich eigentlich für Ihre Arbeit bedankt?
Gerade von Joe Cocker gab es für jeden Abend ein Dankeschön. Sein ganzes Team pflegte einen sehr freundlichen Umgang, was nicht immer so ist. Bei Simply Red war es zum Beispiel viel distanzierter, aber auch Mick Hucknall hat sich am Ende herzlich bedankt. Die schönste meiner vielen Supporttouren war jedenfalls die mit Cocker. Es war leider seine letzte Konzertreise. Joe Cocker war ein freundlicher Opi, der mit dem Klang seiner eigenen Stimme kokettierte. Abends auf dem Flur sagte er zu mir: „Mensch, Johannes, wenn ich noch mal jung wäre und so singen könnte wie du!“ Aber er konnte ja noch richtig gut singen. Für mich eine große Ehre, diese 25 Shows mit ihm gespielt zu haben.
In „Ecke Schmilinsky“ besingen Sie eine ganz besondere Begegnung auf der Reeperbahn bei Nacht, die Sie aus dem Takt gebracht hat. War das der Moment, als Sie Ihre Lebensgefährtin Ina Müller kennenlernten?
Ja, das kann man so sagen. Der Song ist eine Metapher für diese Begegnung. Man singt ja eh viel über die Liebe und ich hatte einfach noch keinen Song übers Kennenlernen geschrieben. Hier und da habe ich ein bisschen gemogelt, was die Örtlichkeit anbelangt. Ecke Schmilinsky stimmt, aber mit „nachts um halb eins auf der Reeperbahn“ ist eher der „Schellfischposten“ gemeint, und der ist ja nicht auf der Reeperbahn. Aber das Gefühl und die Story stimmen.
Wären Sie und Ina Müller auch ein Paar, wenn Sie nicht den gleichen Beruf hätten?
Jeder von uns hatte auch schon Partner, die nicht den gleichen Beruf hatten. Dass wir den gleichen Beruf haben, hat uns am Anfang eher abgeschreckt. Ich dachte, Ina Müller ist ja ein Star, das bringt eh nichts. Und sie dachte, ich sei so ein Frontmann, der eh nur unterwegs ist mit anderen Girls. Man kann gar nicht sagen, was wäre wenn gewesen. Ich versuche es so zu nehmen, wie es ist – und es läuft schon seit 13 Jahren gut. Natürlich mit Höhen und Tiefen, aber es gibt keinen Grund zur Panik.
Den anderen leben lassen, ihn nicht einengen, sondern unterstützen – ist das aus Ihrer Sicht das Wichtigste in einer Beziehung?
Absolut. Das ist nicht immer einfach, vor allem, wenn man sich an einen gemeinsamen Alltag gewöhnt hat. Wir beide haben den Vorteil, dass wir keine Verantwortung für eine eigene Familie tragen müssen. Diese Freiheit ermöglicht es uns, auszuweichen.
Stellen Sie sich zuweilen die Frage, ob man in Liedtexten gendern sollte?
In Liedtexten habe ich darüber noch nicht nachgedacht, da versuche ich es eher generell zu halten oder mit Bildern zu arbeiten. In meiner allgemeinen Sprache versuche ich aber, mich fürs Gendern zu sensibilisieren. Es gelingt mir natürlich nicht immer, aber ich bemühe mich, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Wenn ich weiß, dass sich durchs Gendern Menschen besser fühlen, ist es für mich okay. Ich verstehe aber nicht, warum sich Menschen schlechter fühlen sollten, die nicht gendern wollen.
Ist das Gendern bei Gesprächen zwischen Ihnen und Ina Müller ein Thema?
Ja. Ina ist eine progressive Frau, die am Zahn der Zeit ist. Sie weiß, was sie für sinnvoll hält. Man muss nicht jede woke Phase mitmachen, aber immer Rücksicht auf andere nehmen. Für die Generation meines Vaters ist es aber nicht einfach, diese ganzen Dinge zu verinnerlichen, mit denen wir über die Medien konfrontiert werden. Andere brauchen mehr Zeit, um das zu verinnerlichen und im besten Falle auch anzuwenden.