Die einen sehen einen „heißen Herbst" aufziehen, die anderen hoffen auf einen milden Winter. Die Energiekrise ist eine massive Herausforderung auf allen Ebenen. Entsprechend intensiv wird um jede Entscheidung gerungen.
Die Zahlen bestätigen nur, was Bürgerinnen und Bürger längst jeden Tag beim Einkauf oder beim Blick auf den Kontoauszug erleben: Alles ist teurer. Genau um zehn Prozent, rechnet das Statistische Bundesamt im Oktober vor. Am gleichen Tag bestätigt die sogenannte Ängste-Studie, dass für mehr als zwei Drittel der Deutschen die Sorge vor steigenden Lebenshaltungskosten das dominierende Thema schlechthin ist. Wenig überraschend nach den Entwicklungen seit Februar. „Energiekrise" hat das Zeug, zum Wort des Jahres gekürt zu werden.
Die Bundesregierung und die Politik insgesamt ringt nun schon seit geraumer Zeit darum, wie das Land durch den Winter kommt, und wie das wirtschaftlich und sozial im erträglichen Rahmen gehalten werden kann. Konzepte wie die Gasumlage werden entwickelt und nach heftigen Diskussionen wieder verworfen. Andere werden geschaffen, die zwar schnelle Hilfe in Aussicht stellen, aber nach eigenem Eingeständnis soziale Unausgewogenheiten in Kauf nehmen, weil alle davon profitieren – auch die, die es nicht zwingend nötig hätten.
Einmal mehr wird klar, dass Energiepolitik ein langfristiges Geschäft ist, mit hochkomplexen Verwobenheiten und Abhängigkeiten, und dass die Ziele dabei mitunter in heftigen Widersprüchen zueinander stehen. Klimapolitisch mögen die starke Fokussierung auf Gas als Übergangsenergieträger sowie der Kohle- und Atomausstieg begründet gewesen sein, ebenso umweltpolitisch die kritische Haltung zum Fracking. Die Konsequenzen für die Frage nach der Energiesicherheit sind in diesem Jahr nun überdeutlich geworden. Genauso wie die inzwischen offenkundige Tatsache, dass das Beharren auf einer reinen Lehre in Sachen Energiepolitik für die aktuellen Herausforderungen kaum lösungstauglich ist.
Dass Kohlekraftwerke (mit Importkohle) wieder angefahren und aller Voraussicht nach einzelne Atomkraftwerke ihre Außerdienststellung zeitlich nach hinten verschieben werden, sind nur die symbolisch sichtbarsten großen Beispiele. Die Kritik an einseitigen Abhängigkeiten und gleichzeitig stiefmütterlichem Ausbau Erneuerbarer Energien in der Vergangenheit ist berechtigt, hilft in der aktuellen Situation aber nicht weiter.
Keine Lösungen mit reiner Lehre
Das Dilemma der großen Politik spiegelt sich im Kleinen wider. Im privaten Bereich sind Termine mit Kaminbauern und Schornsteinfegern in diesem Jahr kaum noch zu bekommen. Kohleöfen und Holzkamine feiern eine ungeahnte Renaissance. Es ist noch gar nicht so lange her, dass manche sogar ein Verbot dieser nicht gerade klimafreundlichen Feuerstätten diskutiert hatten.
Wer seine private (Teil-)Unabhängigkeit umweltfreundlicher mit Solartechnik sichern wollte, wurde schon im Sommer abschlägig beschieden. In Baumarktwerbeblättern annoncierte Solaranlagen waren erst gar nicht lieferbar. Fast verschmerzbar war dann, dass Fachleute zur Installation ohnehin keinen Termin mehr frei gehabt hätten.
Wer nun schon vorrechnet, dass dieser Winter zum klimapolitischen Desaster werden würde, weil zur Energiesicherheit auf Maßnahmen zurückgegriffen wird, die längst Auslaufmodell waren, hat womöglich die andere Seite der Entwicklung noch nicht auf dem Zettel: das Energiesparen. Vom erklärten Ziel, den Energieverbrauch um 20 Prozent zu reduzieren, ist das Land zwar noch ein gutes Stück entfernt und wird es auch womöglich nicht erreichen, aber in die Nähe könnte man kommen. Was aus klimapolitischen Gründen kaum erreichbar war, könnte jetzt durch den Preisdruck zumindest teilweise gelingen. Keine Einrichtung, in der nicht Energiesparkonzepte erarbeitet, beschlossen und in der Umsetzung sind, und in den meisten Haushalten dürfte es ähnlich aussehen. Die jüngsten Zwischenberichte über den Stand der Energieeinsparungen signalisieren: Die Bemühungen sind unverkennbar, das Ziel aber noch in ziemlicher Ferne.
Die Diskussion, dass allzu großzügige Hilfen angesichts explodierender Energiepreise kontraproduktiv sein könnten, zeigt das Dilemma: Bremst eine Gas- (und gegebenenfalls Strom-)preisbremse die Einsparanstrengungen wieder aus?
Frankreich hat mit einem milliardenschweren Programm Gas- und Strompreise gedeckelt. Das bremst auch die dort galoppierende Inflation ein wenig ab. Ein Anreiz zum Energiesparen ist es aber nicht. Die Regierung in Paris hat deshalb schon drastisch gewarnt: Wenn die Bürger die massiven Entlastungen nicht ihrerseits mit Sparbemühungen ergänzten, wären im Winter zeitweise Gas- und Stromausfälle nicht auszuschließen.
Die Liste solcher Dilemmata ließe sich noch ziemlich verlängern.
Entscheidungen unter Druck
Die Menschen erwarten in diesen Situationen Orientierungen. Das ist eine Frage von nachvollziehbaren politischen Entscheidungen. Wenn es schon wehtut, will man wenigstens eine ordentliche Erklärung und bestenfalls auch eine Perspektive. Krisenkommunikation in einer solchen Situation ist eine Herausforderung, mit der das Land – glücklicherweise – bislang wenig praktische Erfahrung hatte. Das gilt für beide Seiten, die zu einer Kommunikation dazugehören: die Sender von Botschaften auf der einen, aber eben auch die Empfänger auf der anderen Seite. Zwei Jahre Pandemieerfahrung haben einiges darüber gelehrt. Vielstimmige Dauerdebatten, widersprüchliche oder halbherzige Beschlüsse schaffen kein Vertrauen oder Zuversicht, die Krise bestehen zu können. Umgekehrt: Wenn ich nur die Botschaften höre, die meiner Meinung entsprechen, werde ich kaum mein Verhalten den massiv veränderten Bedingungen anpassen wollen. Transparente und in sich stimmige Signale der Entscheidungsträger sind Gebot der Stunde. Es ist eine notwendige Voraussetzung, aber für sich noch keine Erfolgsgarantie.
Am Ende gilt, wie auch in der Pandemie: Politik muss die nötigen Maßnahmen zur Abmilderung aktueller Belastungen ebenso treffen wie Weichenstellungen für Wege aus den latenten Krisen. Das passiert unter enormem Druck, gelingt mal besser, mal nicht so gut, Selbstkorrekturen nach heftigen Diskussionen wie bei der einst geplanten Gasumlage inbegriffen. Die mehrfach genannte Aussicht, dass die aktuelle Krise mit Wohlstandsverlusten einhergehen wird, ist keine sonderlich rosige und motivierende Aussicht, aber realistisch.
Andererseits ist durch den massiven Druck einiges auf den Weg gekommen, über das zwar bereits seit Jahren diskutiert wurde, ohne aber konsequent angepackt zu werden. Was teilweise an politischem Willen lag, teilweise aber auch an der Komplexität der Herausforderung. Die unumgängliche Energieeinsparung ist ein Beispiel, forcierter Ausbau Erneuerbarer Energien ein anderes, dazu der Auf- und Ausbau von Alternativen, Stichwort Wasserstoff, andere energiepolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene (Energiepolitik war bislang Sache der Mitgliedstaaten). Das alles sind Ansätze, die im Übrigen auch schon vor der aktuellen Krise Teil der Pläne zur Umsetzung des Green Deal waren.
Davon, dass wir aus dieser Krise stärker hervorgehen, als wir reingegangen sind, wie es die ehemalige Kanzlerin Merkel in früheren Krisen formuliert hatte, würde derzeit kaum einer besonders laut reden wollen. Dafür sind die unmittelbaren Herausforderungen zu groß und die Entwicklungen zu ungewiss. Erst einmal geht es darum, die nächsten Wintermonate zu bewältigen. An offenen Fragen und Handlungsbedarf gibt es dabei keinen Mangel.