Der Weltcup-Auftakt in Wisla wird erstmals auf Matten ausgetragen, es könnte ein Fingerzeig für die Zukunft sein. Die deutschen Skispringer beschäftigen sich aber eher mit dem Hier und Jetzt: Eine Leistungssteigerung muss her.
Eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar wirbelt nicht nur den Terminkalender der Kicker durcheinander. Da das Großevent aufgrund der klimatischen Begebenheiten am Persischen Golf in die Adventszeit verschoben wurde, hat es auch Einfluss auf die Saisongestaltung der Wintersportarten. „König“ Fußball bestimmt vom 20. November bis zum 18. Dezember das Sportgeschehen, und deshalb starteten zum Beispiel die Skispringer bereits am 5. November im polnischen Wisla in ihre nacholympische Saison – und schrieben dabei gleich zweimal Geschichte: Noch nie zuvor wurde der Weltcup so früh eröffnet, und erstmals wurde nicht auf Schnee gesprungen, sondern auf Kunststoffmatten. Ein Modell, das angesichts der Klimakrise Zukunftscharakter haben könnte. Doch die deutschen Skispringer kamen mit den Bedingungen nicht sonderlich gut zurecht.
Bei den beiden Wettkämpfen auf der Adam-Malysz-Schanze, benannt nach dem viermaligen Weltmeister, sprang für das Team des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) kein einziger Top-Ten-Platz heraus. Beim zweiten Weltcup im finnischen Kuusamo (26. und 27. November) wollen Karl Geiger und Co. wieder weiter vorne angreifen und den insgesamt enttäuschenden Auftakt vergessen machen. „In Kuusamo beginnt die Saison eigentlich erst“, sagte Markus Eisenbichler. „Da wird es auf jeden Fall weiß sein“, ergänzte Geiger mit einem gequälten Lächeln. Denn auf den grünen Matten von Wisla war für ihn und seine Teamkollegen nur wenig im grünen Bereich.
„Ergebnistechnisch ist es nicht wahnsinnig gut gelaufen“, gab Bundestrainer Stefan Horngacher zu. Allzu pessimistisch wollte der Österreicher aber nicht sein, denn: „Wir sind nicht so weit weg.“ Die zweiwöchige Pause nach den Springen in Wisla hat das Team im Trainingslager genutzt, um hart an Form, Fitness und Fluggefühl zu arbeiten. „Wir können alle ein gutes Training gebrauchen“, sagte der Olympia-Dritte Karl Geiger unmittelbar nach dem verpatzten Saisonstart: „Es gibt viel zu tun.“
Trainingslager soll es richten
Vor allem für ihn selbst. Der nominell beste deutsche Weitenjäger, der bei Olympia in Peking zu Beginn des Jahres zwei Bronzemedaillen (Einzel und Team von der Großschanze) gewonnen hatte, blieb in Wisla deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Im ersten Wettkampf habe er „gar nicht reingefunden“, was eine höchst unangenehme Konsequenz für ihn zur Folge hatte: keine Qualifikation für den zweiten Durchgang. „Das war ein ziemliches Brett“, gab der 29-Jährige offen zu. Am zweiten Tag lief es für ihn mit Platz 17 auch nur bedingt besser. „Ich habe ein bisschen mehr Druck an die Kante gebracht, aber es ist noch nicht die ganz feine Klinge“, analysierte Geiger: „Es fehlt mir noch ein bisschen die Drehung und dass es ins schwerelose Gleiten kommt.“ Deswegen wollte der Oberstdorfer in der Wettkampfpause verstärkt an seinem „Gefühl für die Anfahrtsposition“ arbeiten, „ich merke, dass die Winkel nicht ganz passen“. Er habe bei der Anfahrt „eine kleine Welle drin, und dann kommen viele Konterbewegungen – und das kostet unglaublich viele Meter“.
Von der Spitze war nicht nur Geiger, sondern auch Markus Eisenbichler als potenziell zweiter deutscher Sieganwärter noch meilenweit entfernt. Der polnische Skisprung-Star Dawid Kubacki zum Beispiel gewann beide Heim-Springen und präsentierte sich sieben Wochen vor Beginn der prestigeträchtigen Vierschanzentournee bereits in beeindruckender Frühform. Auch der Norweger Halvor Egner Granerud und der Österreicher Stefan Kraft sprangen konstant weit und stabil. „Das ist schon spektakulär, wie die springen“, meinte Geiger, und er gab unumwunden zu: „Da sind wir ein gutes Stück weg.“ Das registrierte natürlich auch Bundestrainer Horngacher, der die zweiwöchige Wettkampfpause mit zwei intensiven Trainingslehrgängen füllte, „um den Wettkampfrhythmus schnellstmöglich aufnehmen zu können“. Geiger und auch Eisenbichler sollen in Kuusamo wieder mindestens unter die Top Ten fliegen: „Bei den Topleuten fehlen noch die guten Sprünge.“
Hoffnung auf Tournee
Für Eisenbichler kamen die Startschwierigkeiten gar nicht so überraschend. Der Oberbayer legte in der Vorbereitung einen größeren Fokus auf das Krafttraining, um noch absprungstärker und widerstandsfähiger zu werden. Daher habe in Wisla ein wenig die Frische gefehlt, bemerkte der siebenmalige Weltmeister, der ein paar Tage vor Kuusamo „noch etwas regenerieren“ wollte, „damit ich nicht so viel Muskelkater habe und etwas entspannter antreten kann“. Er fühlte sich in Polen noch nicht so wohl auf der Schanze, „weil mir alles wehgetan hat“. Das Risiko, zum Saisonstart etwas hinterherzuspringen, nimmt der 31-Jährige in Kauf. „Der Höhepunkt ist klar, bei mir liegt der Fokus auf der Tournee“, sagte Eisenbichler mit Blick auf das Traditionsevent vom 29. Dezember bis 6. Januar. Dort zählt es für Eisenbichler, dort will er in Topform sein – und möglichst das Trauma der deutschen Skispringer beenden: Der Gesamttriumph von Sven Hannawald vor 21 Jahren ist der bislang letzte eines DSV-Adlers.
Oft waren deutsche Skispringer nah dran, doch immer fehlte ein bisschen. Das soll diesmal anders sein, deswegen legt Eisenbichler auf die Ergebnisse der ersten Saisonwochen nicht den allergrößten Wert. „Jetzt muss ich mitspringen, verletzungsfrei bleiben und gut trainieren“, sagte er. Die Plätze 13 und 20 in Wisla bringen ihn überhaupt nicht aus der Fassung: „Ich bin eigentlich ganz entspannt und sehe es nicht so eng. Es war das erste Wochenende – also ganz ruhig!“ Doch auch Eisenbichler wusste: „Ich habe noch viel Arbeit vor mir.“
Vollauf zufrieden war dagegen Pius Paschke. Der Routinier aus Kiefersfelden, der es auf den letzten Drücker in die Mannschaft geschafft hatte, war mit den Plätzen zwölf und 15 zweimal bester Deutscher. „Bei mir lief es aber ganz gut, ich habe es gut umsetzen können und solide Ergebnisse geholt“, sagte der 32-Jährige. Eine generelle Startgarantie hat Paschke für den Weltcup zwar nicht, vor allem mit Stephan Leyhe wird er sich intern weiter um einen Platz duellieren müssen.
Die Umstellung auf das Matten-Springen in Wisla war für ihn überhaupt kein Problem, „wir trainieren unser ganzes Skisprung-Leben schon auf Matten“, erklärte Paschke: „Für die Zuschauer mag das ein wenig ungewohnt sein, für uns Athleten aber nicht.“ Die Optik für den TV-Konsumenten hatte in der Tat den „Charme eines Roulettetisches“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb. Doch womöglich bleibt dem Skisprungzirkus aufgrund des fortschreitenden Klimawandels mittelfristig gar keine andere Wahl, als sogar dauerhaft von Schnee auf Matte zu wechseln. „Die Frage der Zukunft wird nicht sein, was wir wollen – sondern was wir können“, betonte DSV-Teammanager Horst Hüttel: „Was ist in unserer Gesellschaft noch darstellbar? Es ist schon die Frage: Was ist der richtige Weg?“
Existenzkampf des Wintersports
Auf Teufel komm raus Kunstschnee zu produzieren und für das TV eine Winterwunderlandschaft vorzutäuschen, könne nicht der Weg sein, ergänzte Hüttel: „Der Klimawandel ist real. Skispringen hätte mit Eisspur und Matte eine Lösung und ein Konzept, um dem entgegenzuwirken. Das funktioniert gut.“ In Wisla fuhren die Athleten zwar auf einer Eisspur an, die Landung erfolgte dann aber auf den aus dem Sommer bekannten Matten. „Es ist vernünftiger, als mit ganz großem Aufwand Schnee für einen Schneeaufsprung zu produzieren“, meinte auch der frühere Skisprung-Star Martin Schmitt. Die Schanze in Wisla sei dadurch auch viel besser präpariert gewesen als in den Vorjahren. Auch deshalb sprach Bundestrainer Horngacher davon, dass die Bedingungen des Weltcupauftakts „richtungsweisend für unseren Sport, für den Wintersport generell“ gewesen seien.
Der Wintersport kämpft um seine Existenz. Eine gute Nachricht gab es diesbezüglich Mitte November aus dem Bundesinnenministerium. Der Bundesstützpunkt im Bereich Ski-Nordisch in Willingen/Winterberg bleibt nun doch erhalten. „Ich habe gute Nachrichten mitgebracht: Ich habe den Bundesstützpunkt bis 2026 verlängert und auch die volle Anerkennung gegeben“, sagte Bundessportministerin Nancy Faeser anlässlich eines Ortsbesuchs. Die SPD-Politikerin betonte, dass diese Kehrtwende vor allem der ausgezeichneten Jugend- und Nachwuchsausbildung zu verdanken sei. Ansonsten würde der traditionelle Standort die neuen Anforderungen für einen Bundesstützpunkt in vielen Punkten nicht mehr erfüllen. Auch die Anzahl der Kader-Athleten bewegt sich gerade so im Bereich der absoluten Mindestanforderungen.
Im Oktober war zunächst bekannt geworden, dass der Anlage im Grenzgebiet von Hessen und Nordrhein-Westfalen ab 2023 der offiziellen Status eines Bundesstützpunkts entzogen würde, was den Entzug von überlebenswichtigen Fördergeldern nach sich gezogen hätte. Das hätte auch indirekte Folgen für den in Willingen ortsansässigen Ski-Club gehabt, der eine neue HS87-Schanze für das Nachwuchstraining bauen möchte. Umso größer war nun die Freude beim Präsidenten des hessischen Skiverbandes, Franz Werner Weigelt: „Ich glaube, man hat die Steine poltern hören, die von meinem Herzen weggefallen sind. Das ist für die Region extrem wichtig.“
Willingen ist ein traditioneller Veranstaltungsort im Skisprung-Weltcup, die Mühlenkopfschanze ist eine der größten Anlagen weltweit. Den Schanzenrekord von 153 Metern hält seit 2021 der Pole Klemens Muranka. Auch in dieser Saison machen die Weitenjäger vom 3. bis 5. Februar Halt in Willingen und kämpfen um Weltcuppunkte. Auf Schnee – und wenn dafür mit künstlichen Mitteln nachgeholfen werden muss.