Der vor 60 Jahren verstorbene Hermann Hesse gilt als meistverkaufter Autor des deutschen Buchhandels und hat den Nobelpreis erhalten. Doch sein Schaffen wird von der hiesigen Literaturkritik noch immer nicht sonderlich positiv bewertet.
Es war schon überraschend, dass ausgerechnet einem gebürtigen Deutschen nach all den Gräueln der NS-Diktatur 1946 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde. Im Stockholmer Komitee wurde daher auch um die Frage der Nationalität des Kandidaten Hermann Hesse heftig gestritten. Da der seit 1919 im Tessin lebende Hesse seit 1924 die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen hatte, wurde ihm letztlich vom Komitee die Zugehörigkeit zu einem „neutralen Kulturreservat" bescheinigt. Er sei als „unpolitischer Autor" ein bedeutender Vertreter des „zurückgedrängten Humanismus" gewesen und könne laut seinen größten Befürwortern in den Reihen des Komitees als Erbe eines E. T. A. Hoffmanns, Mörikes oder Stifters angesehen werden. Nach einer tiefen Krise habe er sich, etwa mit dem „Steppenwolf", als „wagemutig suchender Künstler" und „empfindsamer Interpret der Angst und des Spiels dämonischer Kräfte" entpuppt.
Hesse erhielt den Literatur-Nobelpreis für sein Lebenswerk und ausdrücklich „für seine inspirierte Verfasserschaft, die in ihrer Entwicklung zu Kühnheit und Tiefe zugleich klassische Humanitätsideale vertritt und sich durch stilistische Meisterschaft auszeichnet." Das hohe Loblied auf den Laureaten überdeckte vollends kritische Stimmen innerhalb des Komitees, die in Hesses Werk lediglich einen „morbiden Charme" entdeckt haben wollten. Doch für die Mehrheit der Stockholmer Verantwortlichen war auch entscheidend, dass Hesse neben Thomas Mann, der sich als früher Bewunderer seines Kollegen schon seit 1931 mehrfach für dessen Auszeichnung stark gemacht hatte, als einziger bedeutender Autor das deutsche Kulturerbe „mit Haltung und Stil" verwaltet habe.
Renaissance auch in Deutschland
Der Zwist um die Bedeutung des Oeuvres von Hermann Hesse im Literatur-Nobelpreis-Komitee spiegelte schon ziemlich genau den bis heute anhaltenden Streit und die weit auseinander klaffende Schere um die Einstufung des Autors wider – zwischen einer riesigen Lesergemeinschaft und einer vor allem im deutschen Sprachraum wenig enthusiastischen Kritikergilde. Im hiesigen Buchhandel sind Hesses Werke ein Dauerseller, und er gilt noch immer als der meistverkaufte deutsche Autor. Weltweit zählt Hesse neben Thomas Mann und Stefan Zweig zu den meistgelesenen deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Was er speziell in den USA vor allem seinem dort in den 1960er-Jahren im Zuge der Flower-Power-Bewegung zum Kultroman aufgestiegenen Opus „Der Steppenwolf" aus dem Jahr 1927 zu verdanken hatte.
Ausgerechnet jenem Werk also, für das keine einzige deutschsprachige Zeitung bei der Erstveröffentlichung ein Interesse an einem damals üblichen Vorabdruck angemeldet hatte. Der US-Hype um den „Steppenwolf" leitete auch hierzulande eine fulminante Renaissance des Autors ein. Hesses Werke stiegen daraufhin besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren zur Pflichtlektüre im gymnasialen Deutschunterricht auf. Inzwischen hat sich die Begeisterung innerhalb des hiesigen Bildungswesen für Hesse, dessen Lyrik unverändert gerne zitiert wird mit dem Dauerbrenner „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…", etwas abgekühlt. Doch der „Steppenwolf" zählte auch 2022 zur Abitur-Pflichtlektüre im Deutsch-Leistungskurs.
In der Generation der Heranwachsenden hat der Autor seine größte Fangemeinde. In freier Abwandlung eines George Bernard Shaw zugeschriebenen Spruchs über den altersbedingten Umgang mit dem Kommunismus hat der „Tagesspiegel" bezüglich der Affinität zu Hesse, der sich als militanter Naturbewahrer, als Feind der die Umwelt schädigender Technik oder als Vegetarier abseits gängiger Gesellschaftspfade bewegt hatte, eine treffliche Formulierung geprägt: „Wer Hesse mit 16 nicht liebt, hat keine Seele. Wer ihn mit 40 noch liest, hat keinen Geschmack."
Kein anderer Schriftsteller habe mehr Renegaten hervorgebracht als eben Hermann Hesse. „In der Tat ist es schwierig, ja fast unmöglich", so der „Tagesspiegel", „Hesse ein Leben lang treu zu bleiben. Es wäre existentiell fatal, in jenem Moment einer bis ans Psychotische grenzenden Weltverzweiflung zu verharren, den er auf die eine oder andere Weise immer wieder gestaltete". Hesses gesamtes schriftstellerisches Schaffen lässt sich als Verteidigung des Individuums, als Auflehnung gegen alles, was die eigene Persönlichkeit einschränken kann, verstehen. „Hesse kann man einfach nicht lesen wie ein normales Buch", so die „Süddeutsche Zeitung", „entweder man tritt hinein, oder man bleibt draußen. Kaum einer wird vergessen, wie ihm Hesse einst das Gefühl gab, direkt aus der Seele zu sprechen. Die Jugend identifiziert sich wohlig mit Weltschmerz, Einsamkeit, Liebesleiden."
Dichterwunsch schon früh ausgeprägt
Von der Jugend auch wegen seiner leicht verständlichen Sprache noch immer verehrt, vom deutschen Kulturbetrieb laut Volker Michel, dem langjährigen Verantwortlichen für sämtliche Hesse-Publikationen beim Suhrkamp-Verlag, seit Jahrzehnten als „rückständiger Romancier und Innerlichkeitspoet aus dem 19. Jahrhundert" geschmäht. Lange war Karlheinz Deschners schon 1957 erfolgte Bewertung von Hesse als Trivialautor im hiesigen Literaturbetrieb maßgeblich geblieben. Um dann von Marcel Reich-Ranickis ebenso vernichtender Klassifizierung Hesses als drittrangigem Schriftsteller abgelöst zu werden – auch wenn eigentlich jedem klar gewesen sein dürfte, dass der Literaturpapst dieses fragwürdige Urteil nur zur weiteren Glorifizierung seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann gefällt hatte.
„Vielleicht braucht es eine weitere Generation", so Volker Michel", „bis Hesse in Deutschland die literarische Ehre erhält, die er verdient." Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein. Die „Welt" ließ kaum ein gutes Haar an Hesses Fabulierkunst: „Hesse ist gemütvoll, nicht amüsant, immer seriös und nie frivol, gern wolkig-mulmig, keinesfalls jedoch prägnant, präzis. Als Lyriker ein Epigone Eichendorffs, in der Prosa behäbig auf den Spuren Gottfried Kellers wandelnd, kriegt er einfach nichts hin, was peppig, fetzig, sexy wäre."
Der am 2. Juli 1877 im württembergischen Calw geborene Hermann Karl Hesse war ein Sprössling einer streng christlich-pietistischen Familie und sollte nach deren Vorstellungen eine theologische Laufbahn einschlagen. Doch schon als Zwölfjähriger soll er seinen Eltern unmissverständlich seinen gänzlich anderen Berufswunsch mitgeteilt haben: „Entweder ein Dichter oder gar nichts!" An diesem Entschluss sollte auch nicht die Einweisung in Erziehungsheime oder eine sogar einen Suizidversuch auslösende Nervenheilanstalt etwas ändern.
Doch zunächst ließ er sich nach bestandenem Einjährigen 1894 zu einer Mechanikerlehre bei einer Turmuhrenfabrik überreden, um anschließend ab 1895 eine dreijährige Buchhändlerlehre in Tübingen zu absolvieren. Nach dem Umzug nach Basel 1899 arbeitete er weiter als Buchhändler, konnte aber gleichzeitig als Kulturjournalist erste Gedichte und kleinere literarische Texte in Zeitschriften publizieren. Nach dem Erfolg seines stark autobiografisch-geprägten Bildungsromans „Peter Camenzind" 1904 wollte Hesse nur noch freier Schriftsteller sein, hatte genügend Geld für eine Familiengründung mit der ersten von drei Ehefrauen und verlegte seinen Wohnsitz ins badische Dörfchen Gaienhofen am Bodensee. Dort verfasste er 1906 seinen zweiten Roman „Unterm Rad", in dem er das Schicksal eines begabten Kindes thematisiert hatte, das unter dem Erwartungsdruck seines Vaters zerbricht.
Bücher unter den Nazis nicht verboten
Sein einzelgängerisches Wesen, das sich im Besuch einer frühen Schweizer Hippie-Kolonie bei Ancona oder einer Indienreise manifestiert hatte, sorgte schon bald für familiäre Probleme, woran auch der Umzug nach Bern 1912 nichts ändern konnte. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs appellierte er an die deutschen Intellektuellen, sich jeglicher nationalistischer Polemik zu enthalten. Unter dem Pseudonym Emil Sinclair erschien 1919 sein psychologisch-reflektiertes, auf eigenen Erfahrungen mit der frühen Psychoanalyse basierendes Opus „Demian", das von Thomas Mann mit Goethes „Werther" verglichen wurde. Im gleichen Jahr verließ Hesse in einer tiefen psychischen Krise seine Familie und ließ sich alleine am Luganer See in Montagnola nieder, wo er mit der Aquarellmalerei begann und 1922 mit „Siddharta" eines seiner Hauptwerke schuf, in dem er sich mit der indischen Philosophie und Religion auseinandergesetzt hatte.
In die Zeit seiner zweiten, 1924 geschlossenen Ehe fiel die Fertigstellung des „Steppenwolfs" 1927. Drei Jahre später folgte die in der mittelalterlichen Klosterschule von Mariabronn spielende Erzählung „Narziß und Goldmund". 1931 bezog Hesse mit seiner dritten Frau ein repräsentatives Anwesen in Montagnola und begann mit den Vorarbeiten für sein letztes großes Werk, das unter dem Titel „Das Glasperlenspiel" aber erst 1943 erschien. Auch wenn Hesse die Nazis ablehnte, vermied er doch eine offene Einmischung in die Zustände im Reich, wo seine Bücher zwar nicht verboten waren, aber als „unerwünscht" galten. Nach Ende des Krieges zog sich Hesse aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes weitgehend aus dem literarischen Leben zurück und konzentrierte sich vor allem auf ein geradezu überbordendes Briefeschreiben. In der Nacht zum 9. August 1962 verstarb er im Alter von 85 Jahren an einem Schlaganfall.