Kann es sein, dass sich die Damenmode-Designer diesen Sommer in der Jahreszeit geirrt haben? Denn in ihren Kollektionen finden sich jede Menge funkelnde Glamour-Kleider wieder, die normalerweise eher zu festlichen Anlässen der kälteren Monate passen.
Aus der medialen Aufregung über den sinnentleerten und dennoch die Charts stürmenden Dumpfbacken-Ballermann-Song „Layla" lässt sich immerhin ableiten, was im Sommer 2022 vor allem bei der jüngeren Generation ganz besonders angesagt ist: Partytime. Es gibt kaum ein Wochenende, an dem nicht mindestens in einem Garten oder auf einer Terrasse eines Wohnviertels ausgelassen und lautstark gefeiert wird. Die perfekten Klamotten dafür haben die Designer den Damen in ihren aktuellen Kollektionen massenweise bereitgestellt. Auch wenn es mehr als zweifelhaft sein dürfte, dass wirklich viele Frauen die bequeme Jeans oder das leichte Sommerkleid tatsächlich zugunsten der funkelnden Glamour-Dresses beiseitelegen werden. Ganz nach dem Vorbild der 1970er-Jahre feuern Letztere mit Pailletten, Kristallen oder von Kettenhemden abgeleitetes Metall-Gewebe namens Chainmail ihre leuchtenden Blitze um die Wette ab.
Üblicherweise pflegen diese Roben in den Winterkollektionen aufzutauchen, weil sie längst fester Bestandteil der wichtigsten Festivitäten zum Jahresende geworden sind. Doch weil die Kreativchefs der Fashionwelt in den vergangenen Saisons coronabedingt weitgehend auf das Entwerfen eleganter Ausgeh-Klamotten verzichten mussten und stattdessen fast nur Käuferinnen für komfortable Loungewear gefunden hatten, wollten sie diesen Sommer offenbar ihre Chance nutzen. Weil sie fälschlicherweise von einem Abklingen der Pandemie ausgegangen waren oder weil sie befürchtet hatten, dass im kommenden Winter wegen einer neuen Covid-19-Welle wieder keine Nachfrage nach Glamour-Dresses vorhanden sein könnte.
Es musste allerdings das gar nicht so kleine Problem gelöst werden, die Damen vom Sinn und Zweck des Erwerbs solcher Glitter-Kleidchen zu überzeugen, die für heiße Sommertage, lauwarme Party-Abende oder für Urlaub mit Sonne und Strand scheinbar kaum eine adäquate Alltagsgarderobe sein konnten. Pfiffigerweise wurde daher erst einmal ein Name für einen neuen möglichen Trend geboren: „Daytime Disco". Mit dem dahinterstehenden Gedanken, das legendäre, mit den Funkel-Pieces direkt verbundene 70er-Jahre Saturday Night Fever von den Tanzflächen der seinerzeit hoch im Kurs stehenden Discos auf den heutigen Alltag überschwappen zu lassen. Sprich, die Ladys zu animieren, die Roben nicht mehr nur für rauschende Partys, sondern auch für den normalen Gebrauch anzuschaffen, etwa für einen Restaurantbesuch oder für einen Brunch. Ein Overdressed-Feeling wurde dabei gar nicht erst thematisiert, auch wenn es bei den Frauen etwas Mut und Selbstbewusstsein voraussetzen dürfte, um sich tagsüber in aller Öffentlichkeit in einem solch unübersehbaren Glitter-Look zu präsentieren. Vorsichtshalber hatten diverse hiesige Frauenmagazine ihren Leserinnen den Tipp gegeben, sich zum Einstieg in das ungewohnte Alltags-Outfit auf Accessoires wie strassbesetzte Handtaschen, kristallverzierte Schuhe oder mit Funkelsteinchen versehene Ohrringe beziehungsweise Stirnreifen zu beschränken. Oder einfach nur ein mit Pailletten aufgehübschtes Crop-Top zu tragen. Was natürlich alles absolut nichts Neues ist und am eigentlichen Thema Daytime-Disco-Dresses völlig vorbeiführt. Die deutsche Ausgabe der „Elle" feierte den Trend jedenfalls als großes Comeback des Glamours und des Maximalismus in der Mode: „Regeln für den neuen Kleider-Trend? Gibt es keine, denn dieser kann frei interpretiert werden. Funkelnde Pailletten oder Strass-Applikationen, Metallic-Nuancen, Lurex-, Samt- und Satinstoffe sowie extravagante Ballonärmel sind jedoch typische Schlüsselelemente, die den kurzen bis mittellangen Kleidern den gewissen Disco-Faktor verleihen."
Die britische „Vogue" machte es sich ganz einfach, indem sie für den „Partywear Trend" des Sommers 2022 keine Geringere als Audrey Hepburn zitierte: „Life is a party, dress like it." Bei der Berichterstattung über die Glitzer-Roben wurde kaum eine strikte Unterscheidung zwischen den drei für das Funkeln verantwortlichen Details, nämlich Pailletten, Kristalle oder Chainmails, gemacht. Denn dank der perfekten Umsetzung durch die Designer lassen sie sich optisch kaum mehr auseinanderhalten. Es sei denn, die Kameralinse war ganz nah an die Models herangetragen worden. Mit einiger Mühe konnten wir immerhin Pailletten eindeutig bei einem hochgeschlitzten Kleid von Loewe, bei bodenlangen Roben von Gucci oder Valentino, bei Mini-Kleidern von Ganni oder Rotate oder, mal was anderes, bei einem Jumpsuit von Badgley Mischka oder bei einer hochtaillierten Hose von Alberta Ferretti identifizieren. Auch Tom Ford, Louis Vuitton, Dior, Lanvin, Chanel, Balenciaga, Burberry, Fendi oder Salvatore Ferragamo präferierten den Sequins-Glamour-Faktor. Paco Rabanne natürlich nicht zu vergessen, weil bei diesem Brand Bling-Bling längst zu einem Markenzeichen geworden ist.
Sandalen und Boots brechen mit Look
Etwas leichter waren die Chainmail-Dresses zu erkennen, die aus einem funkelnden Metall-Mesh-Gewebe hergestellt werden, das der italienische Mode-Zar Gianni Versace schon in den 1990er-Jahren entwickelt hatte. Nur logisch, dass entsprechende Kleider auf dem Versace-Laufsteg für den Sommer 2022 überaus repräsentativ vertreten waren. In Milano zeigten auch Dolce & Gabbana flippige Metallic-Varianten und weitere Funkel-Kleider in Kombination mit Y2K-Chokern. In Mini-Version gab es die Dresses beispielsweise von Ludovic de Saint Sernin oder von Christian Cowan. Sogar Stella McCartney mischte bei dem Glitzer-Trend mit, wobei sie sich für einen goldfarbenen, mit Kristallen überreich ausstaffierten Catsuit entschieden hatte. Burberry war ebenfalls mit einem kristallisierten Catsuit zur Stelle. Balmain sorgte für gehörige Aufmerksamkeit mit mehreren kunstvollen Perlen-Minis. Dass sich auch Fringes bestens für den Trend instrumentalisieren lassen, bewies Alexandre Vauthier eindrücklich mit einem silberfarbenen, kristallisierten Fransen-Minikleid.
Bleibt eigentlich nur noch die Frage zu klären, wie diese auffälligen Teile im Alltag, abseits vom abendlichen Ausgehen in Kombi mit eleganten Schuhwerk wie Pumps und funkelnden Accessoires, salonfähig gemacht werden können. Die deutsche „Elle" hat dafür wohl die richtige Antwort gegeben: „Glamouröse Kleider werden nämlich mit lässigen Styling-Partnern schnell alltagstauglich. Wir kombinieren kurze Pailletten-Trägerkleider zum Beispiel mit einer Oversize-Lederjacke oder einem ausgewaschenen Jeans-Jacket. Und auch ein übergroßer Boyfriend-Blazer setzt immer einen stilvollen Akzent zu Satin- oder schimmernden Bustier-Minikleidern. Und auch die Schuhwahl ist entscheidend, denn flache Sandalen oder lässige Boots brechen mit dem glamourösen Look der Kleider und machen diese tagsüber tragbar. Auf große Schmuck-Akzente und dramatisches Make-up verzichten wir hingegen, denn das verleiht dem Outfit die gewisse Mühelosigkeit."