Er ist Komponist, Dirigent und Klarinettist. Als solcher ist Jörg Widmann demnächst beim Ensemble- und Studiokonzert zur Mendelssohn-Woche im Großen Sendesaal des Saarländischen Rundfunks zu erleben.
Herr Widmann, Sie haben als Kreativpartner mit der Deutschen Radio Philharmonie (DRP) Programme für die Mendelssohn-Woche erdacht. Welcher Leitgedanke steht darüber?
Für mich ist das Programmemachen wie komponieren. Das Zusammensetzen von dem, was ursprünglich gar nicht zusammen gedacht war – die Musik von Heute, und, in dem Fall, der von Mendelssohn. Dahinter steht die Hoffnung, dass das eine das andere befruchtet: Dass man die klassischen Werke anders hört, wenn sie in einem Kontext mit heutiger Musik stehen, und, dass man in der heutigen Musik den Traditionsbezug spürt. Von diesem Geist ist die Mendelssohn-Woche beseelt.
Der DRP-Programmtext bezeichnet Mendelssohn als „Genie“ der klassischen Musik. Falls sie zustimmen: Worin besteht sein Genie?
Ich stimme uneingeschränkt zu. Seine Musik spricht direkt zum Herzen. Mendelssohn war wie Mozart eine Frühbegabung. Er hat im Alter von zwölf bis 14 seine Streichersinfonien komponiert, und zwar nichts weniger als perfekt. Als Komponist muss ich sagen, in diesem frühen Alter schon eine so hohe kontrapunktische Kunst zu besitzen, sprich: wirklich komplexeste Kanon-Strukturen, Fugen-Kompositionen zu schreiben, das ist doch relativ einzigartig in der Musikgeschichte. Ich finde ein bisschen schade, dass sich noch etwas von dem Klischee gehalten hat, dass Mendelssohn „leicht“ sei, er wird auch heute, manchmal noch, finde ich, für zu leicht befunden, weil man ihm abspricht, was man Schumann und Brahms sehr wohl zuspricht, nämlich Tiefe. Es ist eine unendlich tiefe Musik, und in der Kunst ist das Schwerste das Einfache. Mendelssohns Musik scheint einfach.
Sie moderieren das Programm „Alles ist eitel“. Werke von Reimann, Widmann und Mendelssohn werden gespielt. Von dem 87-jährigen Komponisten und Pianisten Aribert Reimann wird „… oder soll es Tod bedeuten?“ gespielt. Acht Lieder und ein Fragment von Felix Mendelssohn-Bartholdy aufgeführt. Was erwartet uns?
Ja, das ist eine Mendelssohn-Adaption, das sind Mendelssohn-Lieder für Stimme und Klavier, und Aribert Reimann hat sie in zeitgenössischer Sprache für Streichquartett und Sopran gesetzt. Das ist ein gutes Beispiel für das Motto, über das ich eingangs sprach.
Ihr Streichquartett Nr. 5 mit Sopran „Versuch über die Fuge“ verwendet Text aus der Vulgata, der im Mittelalter verwendeten lateinischen Bibelfassung, darin enthalten der Vers „vanitas vanitatum, et omnia vanitas“ (Alles ist eitel) aus dem Alten Testament im Buch „Der Prediger Salomo“. Thematisiert das Stück die Ich-Bezogenheit in unserer Gesellschaft?
Dieser Text ist tatsächlich sehr dunkel, pessimistisch. Einer der dunkelsten oder skeptischsten Texte der Weltliteratur. Es sind lauter Aussage-Sätze, die ich vertone. Mit vanitas vanitatum beginnt und endet das Stück. Dazwischen geht es in den Sätzen darum, wie ein Geschlecht kommt, das andere geht – aber die Erde bleibt ewig bestehen. Ich habe auch den für einen zeitgenössischen Künstler fatalen Satz vertont: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, „nihil sub sole novum“. Es gibt auch Sätze, die den buddhistischen Gedanken der Wiederkehr berühren. Die Sonne geht auf und unter, und kehrt wieder an den Ort zurück, wo sie wieder aufgeht. Es geht um ein Kreisen, darum, dass der Mensch sich nicht, im Guten wie im Schlechten, verändert. Zum Schluss wird – auf Deutsch, aus dem Prediger-Salomon-Text – die Urfrage, oder eine der Urfragen des Menschen gestellt, nämlich: „Fern ist der Grund der Dinge und tief, gar tief, wer will ihn finden?“ Das Stück endet mit dieser Frage und rastet ein letztes Mal ein in dem Satz: „vanitas vanitatum omnia vanitas!“
Das Oktett für Streicher in Es-Dur, Op. 20, nennen Sie „das unsterbliche Oktett“. Mendelssohn schrieb es 1825, vor fast 200 Jahren. Das Stück ist so frisch und anmutig, dass man ins Schwärmen kommen kann. Bitte schwärmen Sie …
Ja, bei Mendelssohn kann ich nur schwärmen. Das ist ein ganz frühes Stück, in das er all seine Meisterschaft hineinlegt. Dieses Oktett ist von unwiderstehlicher Kraft. Gleich im ersten Satz gibt es eine Stelle, wo die erste Violine in Stufen nach oben geführt wird und ein hohes Es erreicht. Das ist etwas so Beglückendes, und man hat den Eindruck, die Violine steigt gleichsam in den Himmel.
Im Programm „Mission Mendelssohn“ dirigieren Sie unter anderem „Die Hebriden“, eine Konzert-Ouvertüre, die als Erstaufführung in endgültiger Fassung 1833 unter Mendelssohns Dirigat in Berlin gespielt wurde. Erleben wir zehn Musik-Minuten stürmische Winde vor Schottlands Küste?
Auf jeden Fall. Die Musik malt gleichsam die sagenumwobene Fingalshöhle, aber sie ist viel mehr. Es ist ein kompositorisches Meisterwerk, weil er mit nur einem einzigen Motiv ein ganzes Stück und Tausende Stimmungen bauen kann. Von Johannes Brahms gibt es den Satz: Ich würde alle meine Werke dahingeben, wenn ich im Stande gewesen wäre, die Hebriden-Ouvertüre zu komponieren. Das muss man sich mal vorstellen: Brahms, der für seine Selbstkritik bekannt war, sagt diesen ungeheuren Satz.
Mendelssohns Sonate Es-Dur für Klarinette und Klavier haben Sie für Streichorchester, Harfe und Celesta (Tasteninstrument. Klangspektrum an Glockenklang erinnernd; Französisch: céleste, Deutsch: himmlisch; Anm. d. Red.) bearbeitet. Was hat Sie gereizt, das Stück zu bearbeiten?
Das ist ein Werk des 15-jährigen Mendelssohn. Die Klarinettisten spielen das Originalwerk leider viel zu selten, so gut wie nicht. Ich habe nie verstanden warum, denn diese Melodie – aus dem langsamen Satz, aus dem Andante – kommt einem vor, als ob sie schon lange existiert hätte und einer sie nur mal aufschreiben musste. Wenn man die ersten Töne hört, weiß man: Es kann nur Mendelssohn sein. Es ist wie ein Lied ohne Worte. Das war ein alter Traum von mir, sozusagen durch unsere heutige Zeit, wie in einem Prisma, das Stück zu bearbeiten. Die Klarinettenstimme habe ich komplett unangetastet gelassen, aber Streicher, Harfe und Celesta hinzugefügt.
Treffen Sie als zeitgenössischer Komponist auf Vorbehalte?
Wie meinen Sie das?
Vorbehalte von Seiten des Publikums oder Veranstaltern.
Natürlich gibt es so etwas, aber ich habe das Glück, dass meine Musik auf der ganzen Welt gespielt wird. Warum komponieren wir? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grunde, den Beethoven als Motto über seine „Missa solemnis“ geschrieben hat, nämlich: Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen. Deshalb komponieren wir. Und, wenn dieser Transfer gelingt, dann ist das etwas Wunderbares. Auf der anderen Seite kann ich keine Umfragen machen und sozusagen Kompromisse eingehen, und fragen, ob es dem Herren in der zweiten Reihe oder der Dame im Balkon auch gefällt – so kann ich nicht Kunst machen. Da bin ich ganz Schönbergianer, Schönberg hat gesagt: Kunst kommt nicht von Können, diesen Halbsatz kann man mit Fug und Recht anzweifeln, aber ihm ging es mehr um den zweiten Halbsatz: sondern vom Müssen. Er kann nicht anders. Und diese beiden Sätze, von Beethoven und Schönberg zusammengenommen, beantworten Ihre Frage. Man darf sich nicht scheren, wenn es Widerstand gibt, wenn man daran glaubt. Aber jeder Künstler, denke ich, wünscht sich, dass er andere berührt, mit dem, was er tut.
Die Sinfonie Nr. 1 c-Moll hat Mendelssohn 1824 als 15-Jähriger komponiert. Seine 4. Sinfonie, die „Italienische“ wird sehr häufig gespielt. Fiel vielleicht gerade deshalb Ihre Wahl auf die 1. Sinfonie?
Richtig. Die „Schottische“ und die „Italienische“ werden wirklich sehr viel gespielt – und zum Glück – aber die erste Sinfonie fristet wirklich ein Schattendasein. Allein der erste Satz ist von solch einem stürmischen Furor getragen – da ist noch ganz wenig von dem leichten, göttlichen Mendelssohn zu spüren, der er in seinen anderen Sinfonien sehr wohl ist. Da ist ein junger Mensch mit einem Überdruck an Gefühlen, die er da hinausschleudern muss. Ein faszinierendes Werk für das ich mich sehr einsetze.
Felix Mendelssohn Bartholdy zählt zu den Musikern der Romantik. Wenn man heute seine Musik aufführt, geht es darum, die Gefühlsbetonung herauszuarbeiten oder dagegen anzugehen?
Es geht immer darum, Gefühle herauszuarbeiten, aber es geht auch immer darum, Strukturen aus der Partitur herauszuarbeiten. Als Komponist und als Dirigent lese ich natürlich erst einmal die Partitur und da ist eine solche Überfülle an Information, aber Mendelssohn ist sehr klar. Er ist einer der Komponisten, die genau die richtige Anzahl an Informationen schreiben. Es gibt Komponisten, die eine Überzahl an Informationen, auch an Adjektiven, verwenden, was oft gar nicht nötig wäre. Es gibt Komponisten, die ganz wenig dynamische oder charakterliche Angaben schreiben. Bei Mendelssohn ist – wie alles bei ihm – eine perfekte Balance.
Herr Widmann, sind Sie ein Romantiker?
Eine schwere Frage. (lacht) Wenn ich Mendelssohn höre, wenn ich Mendelssohn dirigiere, wenn ich Mendelssohn spiele, werde ich zu einem Romantiker.