Die erste große Corona-Herbstwelle ist abgeflacht. Mit zunehmend winterlichen Verhältnissen ist eine Winterwelle ziemlich wahrscheinlich. Kommt die mit einer Grippewelle und anderen Infektionserkrankungen zusammen, wird die Lage wieder kritisch im Gesundheitswesen.
Es liegt im Wesen von Dunkelziffern, dass sie allenfalls geschätzt werden können. Das muss dann keine reine Spekulation sein, soweit plausible Argumente für eine entsprechende Einschätzung sprechen. Dass es eine hohe Dunkelziffer bei Corona-Infektionen gibt, ist seit Langem bekannt. Nur wie hoch die ist, kann eben nur anhand von Indizien einigermaßen gut geschätzt werden.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach ging vor einigen Monaten davon aus, dass die wirkliche Zahl von Infektionen mindestens doppelt so hoch liegen dürfte, als es die RKI-Statistik aufgrund gemeldeter Fälle ausweist. Für Lauterbach war das eine recht zurückhaltende Annahme, ist er doch sonst eher dafür bekannt, mit schlimmeren Szenarien zu rechnen.
Und die gab es damals schon. Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes rechnete bereits mit einer mindestens dreimal so hohen Zahl. Lehr war bekannt geworden, weil er bereits in einer frühen Phase der Pandemie einen Covid-Simulator entwickelt hatte, der die Wahrscheinlichkeiten für das Infektionsgeschehen berechnet. Er bezeichnete die Situation als unbefriedigend. Während die erste Sommerwelle zu immer neuen Rekordzahlen führte, war gleichzeitig klar, dass diese Inzidenzzahlen nur einen Teil der tatsächlichen Entwicklung wiedergeben. Was sich alleine schon daraus ergab, das nur positive PCR-Tests statistisch erfasst wurden. Dazu kamen noch andere Rahmenbedingungen, die dazu führten, dass die erfassten und veröffentlichten Zahlen zwar nicht falsch waren, aber eben nur einen Teil des Geschehens widerspiegelten.
Dieser nicht nur nach Einschätzung von Prof. Lehr unbefriedigende Zustand änderte sich übrigens auch nicht bei der ersten Herbstwelle, in der das Land kurz davor stand, dass wieder Maßnahmen wie Maskenpflicht und Ähnliches notwendig geworden wären. Diese Herbstwelle hat sich zunächst vergleichsweise zügig zurückentwickelt. Das sagen einerseits die Statistiken. Andererseits sind allerorten ständige krankheitsbedingte Personalausfälle zu beobachten.
Dunkelziffer bereitet Kopfzerbrechen
Sicher ist nach den jetzt bald drei Corona-Jahren eine gewisse Müdigkeit eingetreten, was Zahlen und Statistiken betrifft. Im ersten Jahr blickten alle gebannt mehrmals täglich auf die neuesten Inzidenzzahlen. Immerhin hingen davon neben dem eigenen Infektionsrisiko auch erhebliche Einschränkungen ab. Das Risiko ist geblieben, die Zahlen scheinen aber kaum noch zu erschrecken. Die Rekord-Inzidenzwerte vom Sommer sorgten zumindest nicht für größere Besorgnis, zumindest nicht in weiten Teilen der Bevölkerung. Dazu beigetragen hat vermutlich, dass sich die Hospitalisierungszahlen, also Corona-Patienten in Krankenhäusern, in einigermaßen überschaubarem Rahmen hielten. Schwierig war allerdings der Ausfall von Personal, das sich selbst infiziert hatte.
Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass die jüngste Warnung des Münchener Infektiologen Clemens Wendtner nicht mehr für ganz große Schlagzeilen sorgt. Der geht davon aus, dass die Dunkelziffer beim Infektionsgeschehen bei „schätzungsweise mindestens Faktor zehn“ liegen dürfte, die wirklichen Zahlen also zehnmal höher sind als die gemeldeten. Dabei geht es ihm wohl kaum um einen Überbietungswettbewerb in Schätzungsfragen. Eher um die Sorge vor der weiteren Entwicklung. „Die Sommerwelle hat gezeigt, wie schnell sich die Werte ändern können“, betont der Experte.
Anlass zu der Sorge, die Wendtner mit anderen renommierten Experten teilt, ist die Verbreitung der nächsten Variante, der Omikron-Sublinie BQ.1.1. Diese entkommt „offensichtlich relativ gut“ der Immunabwehr, sagt Wendtner. Deshalb verweist er, wie die meisten seiner Kollegen, darauf, dass Impfungen nicht generell vor Ansteckungen schützen, wohl aber vor schweren Verläufen.
Das wiederum ist kein neue Erkenntnis, im Gegenteil: Diese Erkenntnis wird mit immer weiteren Untersuchungen ein ums andere Mal bestätigt. Was zum Bedauern der Experten und der meisten Gesundheitspolitiker, allen voran den Ministerinnen und Ministern von Bund und Ländern, nicht dazu führt, dass die Impfbereitschaft signifikant gestiegen ist. Impfungen zur Grundimmunisierung tröpfeln allenfalls vor sich, und auch beim Boostern geht es recht verhalten zu.
Das wiederum macht Experten höchst sorgenvoll. Dass es im Winter zu einer weiteren Corona-Welle kommen wird, gilt eigentlich als ausgemacht. Es bleibt allenfalls die Frage, wie heftig die ausfällt, sowohl quantitativ, was also die Zahl der Infizierten betrifft, aber auch qualitativ hinsichtlich der Schwere der Verläufe.
Vor allem sehen die Experten eine unheilvolle Entwicklung, wenn sich mehrere Infektionswellen überschneiden, also neben Corona auch andere Atemwegserkrankungen um sich greifen. Bei Kindern ist eine derartige Entwicklung offensichtlich schon der Fall. „Es ist keine Kurve mehr, sondern die Werte gehen senkrecht nach oben“, wird Florian Hoffmann von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz Divi, zitiert. In einigen Ländern, beispielsweise Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, gebe es kaum noch freie Betten für Kinder in Kliniken wegen der hohen Zahl von RSV-Infektionen (Respiratorischen Synzytial-Virus-Infektionen).
Populistische Lockerungsdiskussion
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geht jedenfalls davon aus, dass mit einer Winterwelle zu rechnen ist. Er traut den derzeit vergleichsweise niedrigen Zahlen nicht und hält deshalb auch reichlich wenig von einem populistischen Überbietungswettbewerb nach dem Motto: Welches Land lockert zuerst?
Zuerst ging es um die Isolationspflicht für Infizierte, jetzt wird in einigen Ländern bereits darüber diskutiert, die Maskenpflicht in Bussen und Bahnen aufzuheben. Aus Sicht des Bundesministers wäre das schlicht „leichtsinnig“.
Wie immer gibt es in diesen Diskussionen auch andere Einschätzungen der kommenden Entwicklung. Der Virologe Christian Drosten glaubt beispielsweise nicht daran, dass die neuen Omikron-Subvarianten eine besonders schlimme Winterwelle auslösen werden. Er weist im Übrigen darauf hin, dass schon kleinere Faktoren wie Wetteränderungen den Verlauf einer Welle „anschieben oder brechen zu lassen“. So habe beispielsweise der überdurchschnittlich warme Oktober dazu beigetragen dass die erste Herbstwelle ziemlich schnell abflachte. Heißt im Umkehrschluss: Wenn sich nach einem ebenfalls eher milden November im Dezember wirklich Winter einstellt, dürfte das die Entwicklung wieder beschleunigen.
Eine weitere Coronawelle, dazu eine Influenza-Welle, dürften zusammen kaum allzu vergnügliche Weihnachtstage erwarten lassen.