Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine für Europa sind schwerwiegend; für den ukrainischen Staatshaushalt wie für jeden einzelnen Bürger sind sie verheerend. Und nun naht ein harter Winter.
Es ist kaum zu übersehen, oder besser, man kann es spüren: Die ukrainische Regierung muss in diesem Winter eisern sparen. Die Heizsaison startete erst ab dem 15. Oktober und erst dann, wenn die Temperaturen dauerhaft auf unter 8 Grad Celsius sinken würden, ließ der Sprecher des Ministeriums für regionale Entwicklung verlauten. Die minimale Temperatur in Wohnräumen sollte dabei nur 16 bis 18 Grad Celsius betragen. Im Moment profitiert das Land noch von relativ milden Herbsttemperaturen.
Das war zumindest der Plan. Kurz nachdem die Kerch-Brücke, die Russland mit der Krim verband, angegriffen und empfindlich getroffen wurde, folgte am 10. Oktober als Rache der Raketenbeschuss fast aller ukrainischer Großstädte. Betroffen waren abgesehen von Wohnhäusern, Museen, Spielplätzen und 38 Bildungseinrichtungen auch die Wärmeversorgung in elf Oblasten (Provinzen) und die Wasserversorgungsnetze in acht Oblasten.
Der Beschuss mit Raketen und Drohnen dauert an. Weil die russischen Truppen vor allem auf die Strom- und Wasserversorgung zielen, hat dies zur Folge, dass die meisten ukrainischen Großstädte mittlerweile zeitweise und geordnet nach Stadteilen vom Strom getrennt werden müssen, um die Netze nicht zu gefährden, und dass die Wasserversorgung zeitweise ausfällt. Wegen des Beschusses am 22. Oktober seien fast 1,5 Millionen Ukrainer ohne Strom geblieben, teilte Regierungssprecher Danylo Timoschenko beispielsweise via Telegram mit. Am 20. Oktober wurde in der ganzen Ukraine für etwa vier Stunden der Strom abgestellt. Die Regierung ermahnt die Bürger zu einem sparsamen Stromverbrauch und kündigte weitere großflächig geplante Stromkürzungen in fast allen Regionen der West- und Zentralukraine an. Im Internet verbreiten sich Empfehlungen, sich Dieselgeneratoren und Power Banks anzuschaffen. Das lässt nun die Preise für viele Geräte der Notfallversorgung, Akkus, Camping-Kocher, sogar Kerzen und Kohlebriketts für die Haushalte, die über Öfen verfügen, schlagartig steigen. Lagerbestände sind oft ausverkauft.
Ukraine spart Strom und Wärme
Ob und in welchem Ausmaß im Winter geheizt werden wird, ist noch nicht abzusehen, aber klar ist, dass dank des harten Sparkurses immerhin genug Gas aus unterirdischen Lagerstätten übrigbleiben wird. Bis zum Start des Winters sollen es 14,4 Milliarden Kubikmeter sein, so ein Sprecher des Energieministeriums. 330 Wärmeversorgungsanlagen wurden bisher im Krieg getroffen, zehn davon komplett zerstört. Staatlichen Angaben zufolge waren noch im September über 80 Prozent des Wärmebedarfs landesweit gedeckt, in der zentralukrainischen Großstadt Dniepr waren es sogar bis zu 90 Prozent. Ob in den von Russland besetzten Gebieten überhaupt geheizt werden kann, ist bislang noch fraglich. „Die schwierigste Situation erwartet uns in Charkiw, Saporischscha und Mykolajiw. Wir halten es für möglich, dass in einzelnen Regionen eine Evakuierung allein deswegen gestartet wird, weil sie nicht mit Wärme versorgt werden können", so die ukrainische Ministerin für die Reintegration dieser Gebiete, Irina Vereshshjuk, gegenüber der Presse. Diese Angriffe gehen auch nach Berichten des „Kyiv Independent" nicht spurlos an der Bevölkerung vorüber. Hunderttausende sind nun auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Freiwilligengruppen organisieren diese, sowohl auf dem Land wie in den Städten. Einige dieser Gruppen, die zuvor Armeeeinheiten versorgten, helfen nun der Zivilbevölkerung, sammeln Geld und Sachspenden wie Stromgeneratoren. Doch auch sie sind vor Angriffen nicht sicher – und müssen sich und ihre Familien selbst auf den kommenden Winter vorbereiten. „Die Möglichkeit, helfen zu können, hat uns Kraft gespendet und durch diese schweren Zeiten durchgetragen. Wir sind auch nach wie vor eins und stark zusammen als Gesellschaft. Aber in Zeiten, wo alternative Energieressourcen immer knapper werden, merken wir selbst, dass die Volkssolidarität nicht aus Gummi und beliebig dehnbar ist", sagt Kyrill, ein freiwilliger Helfer aus Dnypro.
Zahlreiche Hochhäuser aus der Chruschtschow-Ära machen diese Siedlungen besonders verwundbar für Raketen und es oft auch unmöglich, Solarpanele nach draußen zu hängen – weder gibt es dort Balkone, noch Solarpanele. Nicht viele Menschen sind mit dieser Technologie vertraut, können sich solche leisten, Umweltbewusstsein hatte schon vor dem Krieg keine Priorität.
Der Krieg hat außerdem Auswirkungen auf die Wirtschaft der Ukraine und Russlands. Die Mobilmachung in beiden Ländern geht weiter. So kündigte der oberste Militärkommissar Kiews an, dass sie in diesen Tagen ihren Höhepunkt erreichen wird. Damit droht allen wehrpflichtigen Männern unter 60 eine Einberufung, bei Verweigerung drohen Strafgelder und Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren. Zusätzlich hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 23. Oktober ein Gesetz unterschrieben, wonach Frauen die Meldung zum freiwilligen Kriegsdienst ermöglicht wird.
Sowohl in Russland als auch in der Ukraine hat dies massive Folgen für die Wirtschaft im neunten Kriegsmonat. Schätzungsweise ein Drittel der Landesbevölkerung sind internationale oder Binnenflüchtlinge, viele von ihnen haben Haus und Arbeit verloren. Im ersten Quartal sei das BIP der Ukraine um 15,1 Prozent gefallen, im zweiten Quartal schon um 37 Prozent. Insgesamt werde es in diesem Jahr um 33 Prozent reduziert, berechnete die Kiewer School of Economics (KSE), die Weltbank geht von 35 Prozent aus. Russlands Bruttoinlandsprodukt sinkt in diesem Jahr nur um 4,5 Prozent. Ein Verlust an Arbeitskräften auf beiden Seiten sowie zerstörte Produktionskapazitäten setzen die Wirtschaft beider Länder weiter unter Druck. Vor allem die vor der Mobilmachung geflohenen gut ausgebildeten Russen schaden der heimischen Wirtschaft langfristig. Direkte Nachbarländer wie Armenien, Kirgisistan, Usbekistan, Georgien oder Kasachstan profitieren davon, denn dort benötigen Russen kein Visum.
Hoffen auf die Finanzhilfen
Die Ukraine hofft auf den Westen – denn alleine kann sie die immensen Kosten dieses Krieges auf keinen Fall stemmen. Der Krieg hat die Inflation der Hryvnia beschleunigt, die Armut steigt laut Angaben der Weltbank rasch. Reparationszahlungen werden künftig dringend notwendig sein: Schon jetzt beziffert die KSE den Schaden alleine an der Infrastruktur der Ukraine bis September auf 127 Milliarden US-Dollar.
Die G7-Länder der wirtschaftsstarken Demokratien und die Europäische Union haben nun gemeinsam einen Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine auf den Weg gebracht. Eine von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geleitete Expertenkonferenz gab das Startsignal für ein solches Programm nach dem Vorbild der US-Hilfen für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Scholz nannte den Wiederaufbau eine „Generationenaufgabe, mit der man jetzt beginnen muss". Auch von der Leyen mahnte, es dürfe keine Zeit verschwendet werden. „Wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine jederzeit die Unterstützung bekommt, die sie braucht." Präsident Selenskyj warb für rasche internationale Investitionen.
Besonders dringend seien Investitionen in Krankenhäuser, Schulen, Verkehrswege und andere lebenswichtige Infrastruktur. Durch Raketenangriffe sei mehr als ein Drittel der ukrainischen Energie-Infrastruktur zerstört worden. Dieser Teil des Wiederaufbaus könne nicht auf die Zeit nach dem Krieg verschoben werden, dafür brauche die Ukraine jetzt Geld. Der von den G7 erwogene Aufbaufonds müsse bereits im kommenden Monat seine Arbeit beginnen.
Der Präsident nannte einen Finanzbedarf von 38 Milliarden Dollar, um das Staatsdefizit im kommenden Jahr auszugleichen. Das Geld werde benötigt, um Lehrer und Ärzte zu bezahlen sowie Renten auszuzahlen. Die G7 haben bereits weitere Finanzhilfen für 2023 zugesagt. In diesem Jahr flossen ihren Angaben zufolge zusätzlich zur militärischen und humanitären Unterstützung bereits Budgethilfen in Höhe von 20,7 Milliarden US-Dollar in den ukrainischen Staatshaushalt. Insgesamt sind 33,3 Milliarden Dollar zugesagt. Mit Abstand größter Geldgeber sind die USA, Deutschland ist laut Finanzministerium mit einem Anteil von 1,4 Milliarden Euro größter Geber innerhalb der EU.