Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angstzustände oder neurotische Störungen steigen seit Jahren verstärkt an. Arbeitgeber reagieren mit maßgeschneiderten Programmen.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kennen psychische Belastungen am Arbeitsplatz und die daraus folgenden Beschwerden nur zu gut. Sie fühlen sich durch ihre Arbeit seelisch beansprucht oder großem Stress ausgesetzt. Symptome wie Müdigkeit, Mattigkeit, Erschöpfung und Schlafstörungen haben in den letzten Jahren unter den Beschäftigten zugenommen. Besonders stark betroffen sind Beschäftigte des Gesundheitswesens und der öffentlichen Verwaltung. Doch auch in der Wirtschaft kennen viele Konzerne wie das Energieunternehmen EON, die Deutsche Telekom oder der Autozulieferer Continental diese Systematik.
Und das Problem wird sich in Zukunft wohl noch weiter verstärken. Laut einer neuen Auswertung der Krankenkasse DAK nimmt die Zahl der psychischen Erkrankungen deutlich zu, sie machen inzwischen schon 16 Prozent aller Krankschreibungen aus. Die Zahl der Fälle stieg im Vergleich zu 2022 von drei auf 4,8 Prozent pro 100 Versicherte an – mit deutlichen Auswirkungen für die Unternehmen. Und noch eine erschreckende Zahl: 2019 waren psychische Erkrankungen verantwortlich für fast die Hälfte der vorzeitigen Rentenzugänge. So warnt Nicolas Ziebarth, Arbeitsmarktexperte am Forschungsinstitut ZEW in Mannheim, der Anstieg der Arbeitsunfähigkeit sei für Unternehmen und deren Belegschaft „eine hohe Belastung mit hohen Kosten, insbesondere für kleinere Betriebe“. Zudem lässt sich bei einer psychischen Erkrankung für die Unternehmen wesentlich schlechter abschätzen als beispielsweise bei einer Grippe oder einem Armbruch, wann der Arbeitnehmende wieder arbeitsfähig sein wird. Und nicht zuletzt ist der Schutz der psychischen Gesundheit im Arbeitsleben auch gesetzlich garantiert.
Viele Unternehmen haben sich bereits auf das Problem eingestellt und versuchen mit sogenannten Employee Assistance Programms (EAP) wirksam gegenzusteuern und ihre Mitarbeiter zu unterstützen. Bei diesen Programmen sind teilweise rund um die Uhr Experten erreichbar. Sie geben Rat, helfen bei der Suche nach einem Therapieplatz oder überbrücken die Zeit bis zur Aufnahme in einer Klinik. „Generell zielt ein EAP darauf ab, Gesundheit, Gleichgewicht und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu fördern und die Stabilität der Menschen in der Organisation auch in kritischen Situationen zu gewährleisten. Das EAP steht jederzeit und jeder Person im Unternehmen zur Verfügung. Es hilft allen, es entlastet Führungskräfte und spart so jede Menge Zeit, Geld und Nerven.“ Der Vorläufer der modernen EAP und der externen Mitarbeiterberatung war im Übrigen die betriebliche Sozialberatung.
Der Autozulieferer Continental bietet seinen Beschäftigten seit vielen Jahren ein Employee Assistance Programm an, das nicht nur den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern auch deren engsten Angehörigen offensteht. Hier erhalten sie ein umfangreiches Unterstützungsangebot. „Die Beratungsfelder erstrecken sich dabei von Fragen aus dem familiären Umfeld wie beispielsweise zu Partnerschaft, Kindererziehung oder Pflegeberatung über Konflikte am Arbeitsplatz bis hin zur psychosozialen und gesundheitlichen Beratung“, erläutert Nicole Göttlicher, Pressesprecherin Personal bei Continental. Auch eine Erstberatung in rechtlichen und finanziellen Fragen sei Teil dieses Angebotes, so Göttlicher. Der Kontakt kann wahlweise telefonisch, online oder persönlich erfolgen. „In akuten Krisen erhalten Betroffene sofortige Unterstützung rund um die Uhr“, erklärt die Pressesprecherin.
Employee Assistance Programme helfen Mitarbeitern bei der Bewältigung persönlicher Probleme
Das EAP ist dabei ein Angebot, das sowohl Unterstützung in schwierigen Zeiten und bei schon vorhandenen ernsten Problemen bietet als auch vorbeugend genutzt werden kann, um die eigene Gesundheitskompetenz zu stärken.
Das Angebot ist bei Continental eingebettet in ein mehrdimensionales System zur Stärkung der mentalen Gesundheit, das auf Beschäftigtenebene neben dem EAP unter anderem Trainings zu Stressmanagement und zu Resilienz umfasst. „Auf Vorgesetztenebene finden sich Trainings wie ‚Healthy Leadership’, die auf die gesundheitsorientierte Mitarbeiterführung abzielen“, sagt Göttlicher. Auf der Organisationsebene findet etwa das Instrument der psychischen Gefährdungsbeurteilung statt. „Hiermit werden mögliche belastende Faktoren bei der Arbeit identifiziert und anschließend gezielt bearbeitet“, sagt die Pressesprecherin.
Die Basis all dieser Aktivitäten bei dem Autozulieferer ist das sogenannte Continental Safety & Health Managementsystem. „Dieses System beinhaltet vielfältige Regelungen und kontinuierliche Verbesserungsprozesse, die auf den Schutz, die Sicherheit und die langfristige Gesundheit unserer Beschäftigten zielen“, erläutert Nicole Göttlicher.
Der Umgang mit Veränderungen, akuten Belastungssituationen, familiären oder beruflichen Konflikten ist auch bei der Deutschen Telekom allgegenwärtig. Dabei sind diese unabhängig von Alter, Lebensgeschichte oder persönlicher Situation und können prinzipiell jeden im Konzern treffen. Jeder kann in Situationen geraten, die Unterstützung erfordern. „Wir als Deutsche Telekom investieren aktiv in eine Kultur des Wohlbefindens. Bereits 2003 haben wir die telefonische Sofortberatung ‚Sprechzeit’ eingerichtet. Sie ist ein festes Angebot für alle Mitarbeitenden. Rund um die Uhr können sie via Telefon, Video-Online oder Chat die Experten der Mitarbeiter- und Führungskräfteberatung des Fürstenberg Instituts erreichen“, sagt Leonie Brinkmann, Corporate Communications Deutsche Telekom. Dort erhalten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vertrauliche und kompetente Beratung und Unterstützung. Dabei kann jedes Thema besprochen werden – von beruflichen oder privaten Konflikten über Belastung am Arbeitsplatz bis zum Umgang mit Suchtmitteln. „Die Beratungen unterliegen der absoluten Schweigepflicht. Anliegen werden vertraulich und anonym behandelt“, betont Brinkmann. Auf Wunsch oder bei Bedarf vermitteln die Experten an interne oder externe Fachstellen weiter. Auch auf besondere Situationen ist das Institut vorbereitet – so bietet das Fürstenberg-Institut im Rahmen des Nahost-Konfliktes auch Beratungen in Hebräisch oder Arabisch an.
Neben der „Sprechzeit“ bietet die Deutsche Telekom ihren Mitarbeitenden ein umfangreiches Angebot rund um die Themen Achtsamkeit, Resilienz und mentale Stärke. Dazu zählen unter anderem regelmäßige Informationsveranstaltungen zu psychischer Gesundheit sowie Beratungen zu Konzentration, Schlaf und Ernährung.
Doch längst nicht alle Betriebe sind in dieser Hinsicht so gut aufgestellt wie die beiden Dax-Konzerne. Und natürlich gibt es diese Probleme nicht nur in Großunternehmen, sondern auch in den meisten kleinen Firmen. Doch noch immer wissen zu wenige Führungskräfte, wie sie mit psychischen Erkrankungen bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen sollen. Um erkrankte Beschäftigte angemessen zu unterstützen, sollten Führungskräfte eine psychische Erkrankung erkennen können. Insbesondere Wesensänderungen und untypisches Verhalten sind wichtige Warnsignale. Dazu zählen etwa plötzliche Unzuverlässigkeit, häufiges Fehlen, geringere Interaktion im Team sowie übersteigerte Reaktionen wie Nervosität oder Aggressivität. Dabei ist es wichtig, Warnzeichen möglichst früh richtig einzuordnen. „Eine möglichst frühe Unterstützung und Behandlung beugt einer Chronifizierung psychischer Erkrankungen vor“, sagt Dr. Marlen Cosmar, Psychologin am Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG).
Wenn der Verdacht auf eine psychische Erkrankung besteht, sollten Führungskräfte die betroffene Person sensibel darauf ansprechen. Das Gespräch aktiv zu suchen, ist wichtig, um Tabus zu brechen und Beschäftigten zu signalisieren: Ihr seid nicht allein. Gleichzeitig dürfen Führungskräfte weder Diagnosen stellen noch dazu drängen, Auskunft über den Gesundheitszustand zu geben. Führungskräfte unterstützen psychisch Erkrankte am besten, indem sie Hilfsangebote vermitteln. Im Unternehmen selbst sind der betriebsärztliche Dienst, die Betriebliche Soziale Arbeit oder das betriebliche Eingliederungsmanagement die richtigen Anlaufstellen. Ein innovatives Versorgungsmodell hat beispielsweise die Stadt Köln. Dank einer Kooperation mit der städtischen Uniklinik werden psychisch erkrankte Beschäftigte umfassend versorgt.
Ein Unternehmen, das sich um die psychische Gesundheit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern möchte, sollte sich zuerst über seine Intention klar werden. Geht es „nur“ um Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens (Wellbeing), zur Stressreduktion, gegen Burn-out oder andere nicht-krankhafte Befindlichkeitsstörungen oder um Maßnahmen zum Umgang mit psychischen Erkrankungen? Dies sind deutlich getrennte Bereiche, so ist beispielsweise die weit verbreitete Vorstellung, durch Stressreduktion würden psychische Erkrankungen in nennenswerter Weise verhindert, nicht belegt.
Bei anhaltenden Belastungen steigt das Risiko für psychische Erkrankungen um 50 Prozent
Wichtig ist in jedem Unternehmen ein grundlegendes Wissen zu psychischen Erkrankungen wie etwa Depressionen, der häufigsten psychischen Erkrankung, auch wenn diese natürlich nicht immer unbedingt durch das Arbeitsleben ausgelöst wurde. Aber natürlich können berufliche Faktoren wie ein hohes Arbeitspensum sowie Zeit- und Termindruck zu psychischer Belastung und Erkrankungen beitragen. Die Forschung geht heute davon aus, dass die heutige Arbeitswelt in vielen Fällen die Entstehung psychischer Belastungen und Erkrankungen begünstigt. Durch eine andauernde Arbeitsbelastung steigt das Risiko für eine psychische Erkrankung um 50 Prozent. Nach Depressionen werden von Betroffenen am zweithäufigsten als psychische Erkrankung Angstzustände genannt.
Folgende Fragen sollten vom Unternehmen beantwortet werden können: An wen kann für eine Abklärung der Beschwerden und gegebenenfalls Behandlung verwiesen werden und welche innerbetrieblichen Ansprechpartner können unterstützen? Durch die Schulung von Führungskräften, Personalverantwortlichen und Mitarbeitern kann eine Sensibilität für das Thema psychische Erkrankung und die Notwendigkeit professioneller Hilfe geschaffen werden. Zudem tragen derartige Schulungen zu einem offenen Betriebsklima bei. Je früher betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Behandlung erfahren, desto günstiger ist der Krankheitsverlauf und desto kürzer die Ausfallzeit.
Trotz aller zugesicherten Vertraulichkeit reagieren aber nicht immer alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Gesprächs- und Hilfsangebote im Betrieb positiv. Die Angst vor möglichen Konsequenzen einer nachlassenden Arbeitsleistung und Vorurteilen gegenüber psychischen Erkrankungen sind nur zwei Gründe dafür. Das sollte man akzeptieren, aber dann auf jeden Fall auf die Möglichkeit verweisen, professionelle externe Hilfe in Anspruch zu nehmen und das Gesprächsangebot zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal erneuern.