Die Formel 1 hat sich auf die neue Saison eingestimmt. In zwei Phasen wurden die Autos der Generation 2017 auf dem Circuit de Catalunya nahe Barcelona ersten Tests unterzogen. Tricksen war dabei noch an der Tagesordnung. Endgültig aufgedeckt werden die Karten aber erst beim Auftaktrennen am 26. März in Melbourne.
Besten heißt das Zauberwort, bevor die neuen Formel-1-Autos zum Auftaktrennen verladen werden. Testen ist das A und O vor Saisonbeginn, testen, bis den Fahrern Hören und Sehen vergehen, bis die Bremsscheiben glühen. Und die Stoppuhr läuft mit. Der Wettlauf gegen die Zeit zwingt Mensch und Material einen Rhythmus auf, der oft alle und alles verschleißt.
Bevor die Fahrer in ihren neuen Dienstwagen einsteigen und Vollgas geben, wurde hinter den Kulissen, in den Fabriken, Werkshallen, Labors und im Simulator auf Hochtouren gearbeitet. Entwickeln, konstruieren, konzipieren, bauen, prüfen, grübeln, tüfteln alles Aufgaben, um den neuen Boliden konkurrenzfähig zu machen. Geht es auf die Teststrecke, dauert ein Arbeitstag in der Regel zehn Stunden. Meist dreht sich alles um Hightech. Doch um den entscheidenden, winzigen Zeitvorteil zu entdecken, der zum Sieg führt, verlassen sich die Fahrer immer noch auf ihr Gefühl. Sie spüren genau, wann und in welchem Bereich der Strecke sie schneller waren als in der Runde zuvor. Doch oft nutzt auch das feinste Gespür nichts, wenn die Defekthexe plötzlich auftaucht und dazwischen fährt. "Manchmal ist es ermüdend. Du fährst drei Tage lang im Kreis und kommst keinen Deut weiter. Aber wenn dann irgendetwas passiert, und du hast eine Idee, die das Auto ein paar Zehntelsekunden schneller macht, dann hat sich die ganze Plackerei gelohnt", erzählte der siebenmalige Weltmeister Michael Schumacher vor seiner letzten Formel-1-Saison 2012.
Autos auf den Geraden langsamer
Fahrer, Ingenieure, Mechaniker und Teamchefs wissen: Die Testphase vor Saisonbeginn ist immer eine etwas verrückte Zeit. In der wird geblufft und mit versteckten Karten gespielt. Keiner weiß so genau, unter welchen Bedingungen die Konkurrenten testen, welches Programm sie absolvieren. Daher wissen sie auch nie, wie sie die Zeiten im Einzelnen einschätzen sollen. Mit Prognosen über Kräfteverhältnisse sind die meisten Fahrer zurückhaltend. Einig sind sich die Fahrer, dass ihre Autos schneller sind als jene im Vorjahr. "Wichtig ist, dass es schneller durch die Kurven geht", so die Erfahrung von Sebastian Vettel. Der Ferrari-Pilot klärt auf: "Durch ihre Aerodynamik in schnellen Kurven haben die Autos mehr Haftung, in den langsamen Kurven sorgen die breiten Reifen für mehr Haftung."
Laut Simulationen der Fia (Automobil-Weltverband) sollen die Geschwindigkeiten in schnellen Ecken um bis zu 40 Stundenkilometer steigen. Dafür sind die Autos auf den Geraden langsamer. Die Erklärung: Durch die breiteren Reifen rechnen die Ingenieure mit einem Anstieg des Luftwiderstandes um fünf bis zehn Prozent. Wenn auf einer Geraden früher 330 Sachen erreicht wurden, geht es künftig nur noch bis 310 km/h. Mit der Leistung seines Teams war Vettel nach der ersten Testwoche zufrieden (in der zweiten Testphase war diese FORUM-Ausgabe bereits in Produktion, sodass wir nur auf Teil eins der Testfahrten eingehen konnten).
Das erste Ziel der Auftaktwoche habe Ferrari erreicht. "Es ging vor allem darum, viele Kilometer zu fahren. Das ist uns ganz gut gelungen. Andere haben noch mehr geschafft. Es gibt also noch Luft nach oben", so Vettel. Er habe ein besseres Bauchgefühl als im Vorjahr. Prognosen für die neue Saison wagte er nicht. Der 42-malige GP-Sieger verschwieg auch nicht, dass "die Latte wieder hoch liegt, und wir noch viel Arbeit vor uns haben." Vor allem, wenn man Mercedes vom Thron stoßen will.
Das Weltmeister-Team war auch mit seinem neuen Auto dominierend. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sich an der Vormachtstellung von Mercedes in diesem Jahr etwas ändern wird. Der W08 war das schnellste und auch zuverlässigste Auto. Lewis Hamilton und sein neuer Teamkollege, Rosberg-Nachfolger Valtteri Bottas, spulten an vier Tagen fast 2.600 Kilometer ab 400 mehr als Ferrari. Entsprechend zufrieden war Sportchef Toto Wolff, der allerdings davor warnte, die bisherigen Ergebnisse zu hoch zu bewerten. "Das ist nur ein erster Fingerzeig, dass wir okay aussehen. Nicht mehr und nicht weniger", so der Österreicher im Internet. Skeptisch zeigt sich Wolff beim Konkurrenten Red Bull. Er erwarte, dass deren Auto bei den Tests nicht dasjenige ist, das in Melbourne in der Startaufstellung stehen wird. "Ich glaube nicht, dass wir den Red Bull Jahrgang 2017 schon gesehen haben", so Wolff.
Zuversicht herrscht bei Renault. "Das Auto läuft ganz gut. Ich hatte jede Menge Spaß", sagt Teamneuling Nico Hülkenberg. Die Testfahrten erweckten den Eindruck, dass dem französischen Werksrennstall der erhoffte Sprung nach vorne gelingen kann. Im Vorjahr war die Truppe unter den elf Teams auf dem enttäuschenden neunten Schlussrang gelandet. Für "Hulk", der von Force India zu den Franzosen gewechselt war, ist seitdem "alles ganz anders, alles so viel schneller und dynamischer. Es ist ein anderes Zuhause im neuen Cockpit, das war zuerst seltsam, da muss man sich erst akklimatisieren."
Der 29-Jährige erhofft sich von seinem Wechsel einen Karriereschub. Er stand in 115 Grand-Prix-Rennen noch nie auf dem Podium. Die ersten Kilometer in dem neuen Auto verglich Hülkenberg mit einem Baby, das seine ersten Schritte macht. Teamkollege Jolyon Palmer bezeichnet das Fahrverhalten des Vorgängermodells als die größte Schwachstelle. Dieses gravierende Problem habe man ausgemerzt. "Da haben wir große Fortschritte gemacht, das ist jetzt viel besser. Die Balance des Autos ist jetzt in sich stimmig, es ist sehr gut fahrbar", so Palmer. Und Hülkenberg, der Emmericher vom Niederrhein, ist überzeugt und ergänzt: "Mit diesem Auto können wir angreifen."
Die neue Angriffslust wird für alle Fahrer harte Arbeit im Cockpit erfordern. Wegen der höheren Kurvengeschwindigkeiten steigen die Belastungen auf den Nackenbereich. Daher haben die Piloten ihr Fitnesstraining über den Winter intensiviert. Hülkenberg hat sein Programm deshalb um 20 bis 30 Prozent erhöht. Um dem europäischen Winter zu entfliehen, "flüchtete" der Rheinländer im Januar in die Dominikanische Republik, wo er in einem Fitnesscamp "so hart wie noch nie trainierte." Bilder in den sozialen Netzwerken zeigen, wie sich die Fahrer quälen. Toro-Rosso-Pilot Carlos Sainz hängt sich drei bis vier Mal die Woche in der Folterkammer, sprich Kraftraum, Gewichte an den Helm, um den Muskelaufbau im Nackenbereich zu forcieren. Mit dieser Methode hat sich der Spanier vier Kilo Muskelmasse antrainiert. "Statt 50 Minuten zu trainieren, was immer normal war, dauert es bei mir jetzt eineinhalb bis zwei Stunden, also so lange wie ein GP-Rennen", twitterte der Madrilene.
Sebastian Vettel absolviert ein hartes Aufbautraining, um eine hohe Ausdauer zu bekommen", berichtet er und erklärt: "Das macht man mit langen Läufen, Radfahren und speziellem Krafttraining. Damit werden auch die Muskeln aufgebaut, die man als Formel-1-Pilot am dringendsten braucht." Dazu zählt er beispielsweise Hals-, Nacken-, Schulter- und Beinmuskeln. Großen Wert legt der viermalige Weltmeister auf ein abwechslungsreiches Programm. Dazu zählt er Ballspiele wie Squash, Volleyball oder Badminton. "Ich versuche Sportarten miteinander zu kombinieren, die einerseits den Fitnesslevel halten und andererseits die Kondition verbessern und Reflexe schärfen.
Der dritte deutsche Formel-1-Pilot, Pascal Wehrlein, feierte bei den abschließenden Testfahrten (7. bis 10. März) sein Debüt beim Schweizer Sauber-Rennstall. Der 22-jährige Worndorfer hat nach überstandener Wirbelblessur im Nacken, die er sich im Januar nach einem Überschlag beim Race of Champions in Miami/USA zugezogen hatte, von den Ärzten des Weltverbandes Fia grünes Licht für einen Einsatz erhalten. "Wir freuen uns mitzuteilen, dass Pascal seine ersten Runden im C36 absolvieren kann" hieß es in einer Sauber-Pressemeldung. Am Sonntag postete Wehrlein, der vom insolventen Manor-Team zu den Schweizern gewechselt ist, ein Bild, wie er sich im Kraftraum mit Gewichten für die Fliehkräfte fit macht. Älteren Fahrern wie Fernando Alonso, Felipe Massa und Kimi Räikkönen dürften vergleichbare Kräfte von früher bekannt sein. Sie sind alle zu einer Zeit gefahren, in der die Fliehkräfte sehr hoch waren. Für die jüngere Generation könnten die "neue Fahrweise" und das "andere Verhalten" des Autos eine echte Herausforderung werden. "In einigen schnellen Ecken müssen die Fahrer ganz schön den Hintern zusammenkneifen", prognostiziert Red Bulls Aerodynamik-Guru Adrian Newey. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Fahrer nach der Zielflagge aus dem Auto steigen, ohne einen Schweißtropfen vergossen zu haben.
Von Walter Koster