Vor rund 100 Millionen Jahren verloren die Schlangen ihre Gliedmaßen. Dafür machen Forscher Mutationen im Erbgut verantwortlich obwohl das zur Ausbildung von Beinen notwendige Gen auch heute noch vorhanden ist.
Die Paläontologen sind sich einig, dass sich die heutigen Schlangen im Laufe der Evolution aus echsenartigen Vorfahren entwickelt haben. Allerdings war lange Zeit umstritten, ob die gliederlosen Reptilien ursprünglich von Landeidechsen oder von Meerestieren abstammen. Das Problem: Beide Thesen lassen sich kaum mit ausreichenden Beweisen untermauern, weil weltweit lediglich drei fossile Schlangen mit erhaltenen Hinterbeinknochen existieren, genau den Körperteilen also, die für die Herkunftsbestimmung der Schlangen unabdingbar sind. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Studien die wissenschaftliche Waagschale zugunsten der Landeidechsen-Theorie ausschlagen lassen. Was auch für eine Forschungsarbeit gilt, die Francisca Leal und Martin Cohn von der University of Florida in Gainesville jüngst im Fachmagazin "Current Biology" veröffentlicht hatten. "Schlangen haben sich eindeutig aus Vorfahren mit Beinen entwickelt", erklärt Francisca Leal. "Ihr Erbgut belegt dies."
Eigentlich hatte sich das Wissenschaftsteam aus Gainesville mit einem anderen Thema befasst. Nämlich mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Schlangen vor rund 100 Millionen Jahren ihre Gliedmaßen verloren hatten. Obwohl die frühen Reptilien zuvor etwa 200 Millionen Jahre auf vier Beinen über die Welt gewandert waren. Aber irgendwann schien das Laufen für die Urahnen der Schlangen nicht mehr die ideale Fortbewegungsmethode zu sein. Weshalb die Gliedmaßen erst schrumpften, dann zunächst zwei, später sogar vier Beine ganz verschwanden.
Fehler am Sonic-Hedgehog-Gen
Bei einem schon vor Längerem im Nordosten Brasiliens in der dortigen Carto Formation entdeckten Fossil einer Schlange, die dort vor etwa 113 Millionen Jahren gelebt hatte, konnten Forscher aus Deutschland und Großbritannien vier kleine Beinchen nachweisen. Sie berichteten außerdem in einem 2015 im Journal "Science" erschienenen Beitrag, dass das Tier, das "Tetrapodophis" getauft wurde (übersetzt: Vierbeinschlange), seine Gliedmaßen, die Vorderbeine waren schon stark zurückgebildet, wohl nicht mehr zum Laufen genutzt hatte, sondern nur noch zum Greifen von Beutetieren, zum Festklammern am Partner bei der Paarung oder eventuell auch zum Graben einer Höhle.
Bei einem im Libanon entdeckten, im Naturhistorischen Museum in Paris aufbewahrten 95 Millionen Jahre alten Schlangen-Fossil konnten französische Wissenschaftler 2015 dank modernster Röntgenmethoden zwei Beine nachweisen. Diese waren am Knie gebogen und besaßen vier Knöchelknochen, Fuß- oder Zehenknochen waren aber schon nicht mehr vorhanden. Womit diese Schlange eine Schlüsselstellung in der Evolution einnimmt, weil sie noch einige Gliedmaßen der Eidechsen besitzt, aber nicht mehr alle.
Das Team um Francisca Leal und Martin Cohn hatte sich auf der Suche nach der Ursache für den Beinverlust der Urschlangen die Genetik und Entwicklung heutiger Python-Embryonen angeschaut. Bei dieser Schlangenart sind nämlich im frühen Entwicklungsstadium im Körperinneren noch kleine Reste der früheren Beinknochen zu erkennen. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass der genetische Schaltkreis, der normalerweise beim Embryo die Beinentwicklung vorantreibt, bei den Schlangen fehlerhaft ist. Bei den jungen Pythons springt das genetische Programm zwar kurz an, wird dann aber wieder abgestellt. Wodurch selbst bei Pythons lediglich Knospen der Hinterbeine entstehen können. Bei anderen Schlangen wie Kobras oder Vipern ist das genetische Programm noch stärker gestört. Weshalb bei ihnen die Bildung von Gliedmaßen selbst im Embryo nicht mehr angeschaltet wird und sich so bei dieser Schlangenart nicht einmal mehr Beinknospen ausbilden.
Die Ursache für den folgenreichen Defekt liegt nur an einem einzigen Gen, dem sogenannten Sonic-Hedgehog-Gen, das bei den meisten Wirbeltieren dafür sorgt, dass sich in der frühen Embryonalentwicklung Arme und Beine sowie Finger und Zehen entwickeln können. Bei den Schlangen hat es, so die Entdeckung der Forscher, zufällig genau in einer Schaltregion dieses Gens vor rund 100 Millionen Jahren drei Mutationen gegeben. Zwar ist das Sonic-Hedgehog-Gen in der frühen Embryonalphase bei Pythons und auch bei Boas noch aktiv, weshalb der Schlangennachwuchs im Ei noch Beine und Zehen hat, diese bilden sich dann aber im Laufe der Entwicklung wieder komplett zurück. "Die Ergebnisse zeigen, dass die Entwicklung der Python-Gliedmaßen viel weiter fortschreitet, als wir bislang wussten", erklärt Martin Cohn die Ergebnisse. "Sie entwickeln im Embryonalstadium Beine, aber die Zellen schließen den Prozess der Skelett-Entwicklung nicht ab."
Schlangen besitzen daher noch heute das gesamte genetische Instrumentarium, das sie für die Ausbildung von Beinen bräuchten. Die überraschende Konservierung dieses speziellen Genprogramms lässt laut Francisca Leal nur den Schluss zu, dass sie sich aus von an Land lebenden Vorfahren mit vier Beinen entwickelt hatten. Theoretisch könnte das Sonic-Hedgehog-Gen irgendwann wieder komplett aktiviert oder angeschaltet werden. Es brauchte halt nur die entsprechenden Mutationen. Wogegen allerdings eine ganz entscheidende Regel spricht, die Evolutionstheoretiker im Werden und Vergehen von Tier- und Pflanzenarten ausgemacht haben: das Dollosche Gesetz. Dieses besagt, dass die Evolution immer nur vorwärts schreitet und nie zurück läuft. Von daher wird es für die Schlangen wohl keine Rückkehr zu den Gliedmaßen geben können. Was allerdings nicht ausschließt, dass sie künftig eine gänzliche neue Fortbewegungsmethode entwickeln könnten.
Peter Lempert