Erst musste der Bundespräsident bei der Koalitionssuche eingreifen, dann im internen Flüchtlingsstreit Ordnungsrufe erteilen. Selten hat eine Koalition schon in den ersten drei Monaten ein derartiges Schauspiel geliefert.
Wenn das Abschneiden einer Fußball-Nationalmannschaft bei einem großen Turnier als Symbol für den Zustand des jeweiligen Landes genommen werden kann, dann hatte die deutsche Mannschaft einen angemessenen Auftritt in Russland hingelegt. Weder fußballerische noch politische Performance taugen, um dort mitzuspielen, wo die eigentlichen Entscheidungen fallen.
Nach einem dreiviertel Jahr Dauerwahlkampf, einer gescheiterten Koalitionssuche und einer ungeliebten Regierungsbildung scheint die Bundespolitik jetzt mit dem alles überlagernden Flüchtlingsstreit mit ihrer Hundert-Tage-Bilanz genauso dazustehen wie die deutsche Mannschaft in der Vorrunde.
Entsprechend fällt das aktuelle Urteil der Bundesbürger über den Zustand der Bundesregierung schlicht vernichtend aus. Dabei ist relativ egal, in welche Umfrage man blickt, es zeigt sich überall derselbe Trend. Mehr als drei Viertel der jeweils Befragten sind unzufrieden bis sehr unzufrieden mit dem, was „Berlin" derzeit anbietet. Und während man ansonsten allenthalben kritisiert, dass „die Politiker" sich ziemlich weit von dem entfernt hätten, was „die Bürger" so denken, kann man das in diesem Fall nur schwerlich behaupten. Interessanterweise liegen nämlich die Einschätzungen selbst treuer Parteimitglieder ganz auf dieser Linie. Sie sind nicht weniger entnervt von der Inszenierung des Flüchtlingsstreits als das gemeine Volk.
„Ein solcher Streit zwischen den Unionsparteien wie in den vergangenen zwei Wochen, der die Unionsfamilie an den Abgrund führte, darf sich nicht mehr wiederholen", schreiben gleich drei Landesverbände der Jungen Union. „Wir sind Partner und keine Konkurrenten", heißt es weiter in einer gemeinsamen Resolution der JU-Landesverbände Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland.
Die meisten haben inzwischen das aussichtslose Unterfangen aufgegeben, Seehofers wahre Motive für seine Rolle herauszufinden. Von all den Spekulationen und Interpretationen dürfte ziemlich viel zusammengekommen sein in einer multiplen Starrheit unter völligem Verzicht auf jeden Gedanken an die Kollateralschäden, die erheblich nachhaltiger wirken als jeder scheinbar gewonnene Streit um politische Symbole. So bleibt der Eindruck, Bundespolitik sei nur der Machtkampf Merkel-Seehofer und die zum Teil durchaus existenziellen Sorgen der Menschen spielten sich in einer ganz anderen Welt ab.
Dabei geht allerdings auch unter, dass während der Neuauflage dieser Großen Koalition unter dem Radar der Merkel-Seehofer-Schlagzeilen tatsächlich noch einiges politisch auf den Weg gebracht wurde. Etliches, über das sich in normalen politischen Zeiten durchaus trefflich intensiv diskutieren ließe. Beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Die war zwar keine Entscheidung der Regierung, ist aber dennoch ein nicht unwesentliches Politikum im Blick auf die Diskussion etwa um drohende Altersarmut.
Das Bundeskabinett selbst hat Grundgesetzänderungen auf den Weg gebracht, die nötig sind, damit sich der Bund künftig bei Bildung und in Kommunen stärker engagieren kann. Bislang konnte sich der Bund nur bei finanzschwachen Gemeinden beteiligen, nun soll der Weg frei werden für Investitionen insbesondere in die Digitalisierung von Schulen. Für diese „gesamtstaatlich bedeutsamen Bildungsinvestitionen" sollen fünf Milliarden Euro bereitgestellt werden. Das andere sind zweckgebundene Mittel, die der Bund den Ländern für sozialen Wohnraum zur Verfügung stellen will.
Partner oder Konkurrenten?
Ein wichtiges Signal für Beschäftigte ist die Rückkehr zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung. Ab nächstem Jahr sollen wieder Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils den gleichen Anteil bezahlen. Ein besonderes sozialdemokratisches Anliegen, gegen das Arbeitgeberverbände lange Sturm gelaufen sind mit Hinweis auf die Erhöhung der Lohnkosten. Für die Arbeitnehmer bedeutet das eine Entlastung in Milliardenhöhe, wie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betont. Eine weitere Entlastung gibt es für Familien mit Kindern durch Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag, in der Summe soll das eine finanzielle Erleichterung von rund zehn Milliarden Euro bringen.
Zudem hat das Bundeskabinett einen Gesetzesentwurf zur sogenannten „Brückenteilzeit" beschlossen, ein „wichtiges gleichstellungs-, arbeits- und familienpolitisches Anliegen", schreibt die Bundesregierung auf ihren offiziellen Seiten. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kann es auf der Haben-Seite verbuchen. Letztlich ist auch die sogenannte Musterfeststellungsklage nach Zustimmung durch den Bundesrat rechtzeitig in Kraft getreten, um vor allem im Zusammenhang mit dem Dieselskandal, aber auch generell Verbraucherrechte zu stärken. Insofern gab es tatsächlich einige Entscheidungen, die die Handschrift des sozialdemokratischen Koalitionspartners erkennen lassen.
Zu den großen Herausforderungen ist dagegen wenig bis keine Bewegung unter der Lähmung des „Geschwisterstreits" zu sehen: Der neue Heimatminister Horst Seehofer ist noch nicht dazu gekommen, die verabredete Kommission zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ans Arbeiten zu bringen. Der aber wird angesichts der demografischen und regionalen sowie sozialen Entwicklung zentrale Bedeutung zukommen. Über die große Energiewende hört man derzeit wenig. Dass Deutschland die selbstgesteckten Klimaziele nach derzeitigem Stand deutlich verfehlen wird, ist im Grunde schon länger bekannt. Die Zustände in der Pflege könnten sich nach Realisierung der Ankündigungen von Gesundheitsminister Spahn (CDU) zwar verbessern, von Entspannung wird aber auch das noch weit entfernt bleiben. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kann sich zwar über zusätzliche Milliarden freuen, aber wohl ebenso darüber, dass die bekannten Zustände bei der Bundeswehr im großen Streit eher in den Hintergrund gerückt sind.
Ein bislang weniger beachtetes Phänomen wird indes nicht nur immer deutlicher, sondern zu einem echten Problem: In Berlin wird, allen Bekenntnissen zum Trotz, kaum eine Europapolitik im eigentlich europäischen Sinn gemacht. Europapolitik ist, wie übrigens in so gut wie allen anderen Hauptstädten, nationale Politik auf einer anderen Ebene.
Das Image Deutschlands als treibende und führende Kraft ist längst verblasst. Es ist weder ersichtlich, dass eine Mittlerrolle zwischen den alten (West-) und neueren (Ost-) Mitgliedsländern aktiv gestaltet wird, noch sind europäische Antworten zum Brexit aus Berlin zu hören. Fehler in der Flüchtlingspolitik sind bereits lange vor 2015 gemacht worden, als man die Mittelmeeranrainer sehenden Auges mit den Herausforderungen alleine ließ. Dass man praktisch zeitgleich einen harten Austeritätskurs in der EU durchsetzte und dabei lange vor den sozialen Begleitfolgen die Augen verschloss, beginnt sich jetzt zu rächen.
Bezeichnend für das Fehlen einer echten und überzeugenden Europolitik ist, wie lange EU-Kommissionspräsident Juncker und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron auf eine Antwort auf ihre jeweiligen (und fast zeitgleichen) Initiativen zur Entwicklung der brüchig gewordenen Gemeinschaft, die zudem unter heftigen äußeren Herausforderungen steht, warten mussten. Und wie die bisherigen Antworten ausfielen.
Was fast schon wieder den Fußballvergleich nahelegt. Jedenfalls standen Belgien (Brüssel) und Frankreich im Halbfinale (das Spiel wurde erst nach Redaktionsschluss angepfiffen) – während sich Deutschland selbst in die Zuschauerrolle gespielt hat.