Mit der Allmacht des Präsidenten entfernt sich die Türkei noch weiter von der EU
Kurz vor seiner Amtseinführung am vergangenen Montag hat der wiedergewählte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch einmal den Autokraten-Knüppel gezückt: Er feuerte handstreichartig knapp 19.000 Staatsbedienstete per Notstandsdekret. Darunter befanden sich Polizisten, Soldaten, Lehrer und Richter. Der Standard-Vorwurf lautete – wie so oft – Unterstützung des Terrors und geistige Nähe zu dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen. Der soll nach offizieller Lesart für den gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 verantwortlich sein. Mehr als 100.000 Beamte wurden bislang unter diesem Vorwand entlassen.
Die verwaltungstechnische Schnellfeuer-Einrichtung der Notstands-Bestimmungen hat Erdogan künftig nicht mehr nötig. Das neue Präsidialsystem macht ihn zum Sultan von Ankara. Er ist Staatsoberhaupt, Regierungschef und Vorsitzender der islamisch-konservativen AKP in einer Person. Erdogan stellt den Haushalt auf. Er kann ohne Zustimmung des Parlaments Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Unter dem Ausnahmezustand, der spätestens am 18. Juli auslaufen soll, mussten die Notstands-Beschlüsse noch nachträglich von der Volksvertretung bestätigt werden.
Auch bei Personalentscheidungen hat Erdogan völlig freie Hand. Die Berufung und Entlassung von Ministern obliegt nur ihm. Er bekommt mehr Einfluss auf die Einsetzung von Richtern und Staatsanwälten, ernennt die Universitätsrektoren und alle hohen Beamten des Landes. Er kann den Notstand verhängen, das Parlament nach Gusto auflösen und Neuwahlen ausschreiben.
Die Presse ist nur noch ein publizistisches Jubel-Kommando zu Ehren des Präsidenten. Rund 90 Prozent der Medien gehören regierungsnahen Unternehmen. Mehr als 140 Journalisten und Schriftsteller sitzen im Gefängnis. Die Gewaltenteilung, die den Kern westlicher Demokratien ausmacht, ist ausgehebelt.
Der Erdogan-Staat folgt der Logik einer absoluten Monarchie. Es gilt das Motto von Frankreichs König Ludwig XIV. (1638 bis 1715): „L’état c’est moi" – „der Staat bin ich". Der neue, alte Präsident arbeitet an einem monumentalen historischen Projekt. Zur 100-Jahr-Feier der Staatsgründung 2023 will er dem Land seinen eigenen Stempel aufdrücken. Mit der weltlich strukturierten Republik Türkei, die Kemal Atatürk im Oktober 1923 aus der Taufe gehoben hatte, hat dies nichts mehr zu tun.
Dabei gab Erdogan am Anfang seiner Regierungszeit durchaus Anlass zur Hoffnung. Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 wurde die Todesstrafe abgeschafft, die Presse- und Meinungsfreiheit ausgeweitet. Der neue Premier versuchte sogar, das Verhältnis zu den Kurden zu entspannen. Er speckte die Bürokratie ab und erleichterte die Investitionsbedingungen für Unternehmen. Es folgte ein jahrelanger Wirtschaftsboom.
Doch heute entfernt sich die Türkei unter Erdogan noch weiter von der EU. Die Prinzipien von Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Westliche Werte gelten als Teufelszeug. Die Beitrittsverhandlungen mit Brüssel sind de facto zum Stillstand gekommen. Die Eröffnung weiterer Kapitel macht keinen Sinn. Auch an eine Ausdehnung der Zollunion auf die Bereiche Dienstleistungen und Landwirtschaft ist derzeit nicht zu denken.
Dennoch darf es nicht zu einem Bruch der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara kommen. In der Ära eines weltpolitischen Umbruchs, in der wir uns befinden, führen moralische Pauschal-Verdammungen nicht weiter. Europa braucht die Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, in der Sicherheitspolitik, beim gemeinsamen Kampf gegen den Terror. In einigen Fällen konnten Anschläge von Islamisten durch wertvolle Hinweise der Geheimdienste am Bosporus verhindert werden.
Umgekehrt hat auch Erdogan kein Interesse daran, sämtliche Brücken nach Europa abzubrechen. Die Wirtschaft seines Landes ist auf die EU angewiesen. Mehr als 70 Prozent der ausländischen Direkt-Investitionen kamen im vergangenen Jahr aus der Gemeinschaft. Sie ist für die türkischen Exporteure der wichtigste Absatzmarkt. Zehn Prozent des Außenhandels gehen allein nach Deutschland.
Bei aller Kritik an dem neuen Präsidialsystem sollte der Gesprächsfaden mit Ankara nicht gekappt werden. Die Türkei ist für die EU wichtiger als Erdogan. Dessen Amtszeit ist endlich.