Rund ums Jahr feiert man in der Bretagne eigentlich immer irgendwas. Die keltischen Wurzeln, tausende Schutzheilige mit frommen Wallfahrten und ein rauschendes Volksfest, das als Anti-Krisen-Fete begonnen hat.
Sie ziehen mit Trommeln und Pauken durch den Ort, mit Dudelsäcken und Schalmaien. Die anderen, die nicht musizieren, fassen sich an den Händen, haken sich ein, tänzeln durch die Straßen – die Frauen in langen Kleidern, weiß oder rot geschürzt und mit weißen Hauben auf dem Kopf, die Männer mit schwarzen Hüten, Pluderhosen, manche tragen Weste und weißes Hemd. Trachten sind in, wenn im bretonischen Concarneau „La fête des filets bleus" – das Fest der blauen Netze, gefeiert wird. Das gehört heute zu den schönsten Volks- und Folklorefesten der Bretagne und zieht Jahr für Jahr Tausende Trachtenträger und Zuschauer an. Dabei wurde das Event einst aus der Taufe gehoben, als es in Concarneau gar keinen Grund zum Feiern gab: Damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, machte das im südlichen Finistère gelegene Hafenstädtchen gerade schwere Zeiten durch. Mehr als 500 Jahre lang hatten seine Bewohner von Fischfang und Fischverarbeitung gelebt – alles drehte sich um die Sardinen. Im 19. Jh. gingen immer mehr Fabriken an den Start, die Sardinen in Büchsen konservierten und international vertrieben. Concarneau zählte damals zu den größten Zentren für Sardinenfang weltweit. Die große Krise kam im Jahr 1902. Die Sardinenschwärme hatten sich plötzlich aus den Gewässern vor der bretonischen Küste zurückgezogen. Eine Fabrik nach der anderen musste schließen. Arbeitslosigkeit und Armut machten sich breit und Concarneaus Einwohner waren auf staatliche Wohlfahrt angewiesen. Auch 1905 hatte sich die Situation noch nicht verbessert. Einer der Stadtväter beschloss daher, ein großes Wohltätigkeitsfest zu organisieren, um die materielle Not der Fischerfamilien mit den Erlösen zumindest ein wenig zu lindern. Der Mann konnte nicht nur Händler für seine Idee gewinnen. Er holte auch Künstler ins Boot. Befreundete Maler gestalteten das Plakat, das im weiten Umkreis zum Mitfeiern einlud. Jos Parker, ein Dichter, fand den Namen für die Benefizveranstaltung: „La fête des filets bleus". Die filets bleus, die blauen Netze, durch ihre Farbe unter Wasser unsichtbar für Fische, sind das Arbeitswerkzeug der Fischer. Parker machte sie künstlerisch zum Symbol für ein auskömmliches Leben – blaue Netze, die prall gefüllt in die Boote der Fischer gehievt werden können.
Im September 1905 war es dann soweit. Concarneau feierte „La fête des filets bleus", mit viel Musik, Chanson- und Theaterdarbietungen. Frauen und Mädchen hatten zur Feier des Tages ihre kunstvoll verzierten Trachten angelegt. Auf traditionellen Instrumenten, Bombards und Binious, wurde ein Tusch für die Gewinner der Tombola angestimmt. Diese hatten engagierte Künstler mit ihren Werken üppig bestückt. Die Musiker spielten auch einen Tusch für Anne-Marie Pauline Baccon, eine junge Arbeiterin aus einer Fischkonservenfabrik, die Concarneau zu seiner Sardinenkönigin gekürt hatte. In Amt und Würden führte die schöne junge Frau den feierlichen Umzug der Sardinenfischer an.
Die Krise ging vorüber. Concarneaus Wirtschaft fasste wieder Tritt. Das große Volksfest aber wurde beibehalten. In jüngerer Zeit hat man es allerdings auf Mitte August verlegt. Dann ist das Wetter meistens schön, und Tausende Touristen können mitfeiern, wenn keltische Dudelsackklänge und Shanties die Straßen der Hafenstadt erfüllen und Hunderte Blechbläser feierlich die Hymne der Sardinenfischer schmettern. Auch eine Sardinenkönigin wird noch immer in jedem Jahr gewählt, und die führt die „Grand Defilé", den großen Trachtenumzug, an, der zu den Höhepunkten des Volksfests gehört. Mit dabei sind auch die Bagadoù, bretonische Dudelsackspieler, die Jung und Alt zum Tanz auffordern. Einheimische und Fremde fassen sich dann bei den Schultern und lassen sich mitreißen von den magischen Rhythmen. Unter freiem Himmel tanzt man Gavotte, Andro und andere traditionelle Kreistänze, bis tief in die Nacht hinein – oder bis einen die bassgefütterten Beats in einen der nahen Techno-Tempel locken.
Die unzähligen Wallfahrten sind ebenfalls nicht wegzudenken aus dem bretonischen Veranstaltungskalender. In Tréguier wird alljährlich im Mai Saint Yves gefeiert, der Schutzheilige der Juristen. Von nah und fern strömen Bretonen Ende Juli nach Sainte Anne d’ Auray, um die heilige Anna, Mutter der Jungfrau Maria, mit einer Lichterprozession und einer großen Wallfahrt zu ehren. Schon wegen ihrer malerischen Kulisse erfreut sich auch die Wallfahrt von Locronan – einem 800-Seelen-Örtchen wenige Kilometer nördlich von Quimper – großer Beliebtheit. Der Pardon ist eine Parade schmucker Trachten. Wenn schwarz gekleidete Frauen mit hohen, steif gestärkten weißen Hauben und festlich gekleidete Fahnenträger singend durch die sommerlichen Felder ziehen, fühlt man sich als Zuschauer in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt.
Sogar australische Musiker kommen
Die Königin aller Wallfahrten aber ist der Tro Breizh, die Tour durch die Bretagne, die wie keine andere an die kulturellen Wurzeln der Region und die bis heute identitätsstiftende Geschichte erinnert. Ziele der Wallfahrer sind die Gräber der sieben legendären Gründungsheiligen, der Männer, die im frühen Mittelalter als Missionare von der britischen Insel über den Ärmelkanal kamen und an den Küsten der Bretagne Klöster gründeten. So verbindet der Tro Breizh Dol-de-Bretagne, Saint Malo, Saint Brieuc, Tréguier, Saint-Pol-de-Léon, Quimper und Vannes. Im Mittelalter war jeder Bretone und jede Bretonin bemüht, mindestens einmal im Leben an der großen Wallfahrt teilzunehmen. Davon versprach man sich Vergebung der Sünden und einen Platz im Paradies. Zu Hochzeiten des Tro Breizh machten sich Zehntausende Pilger auf den Weg. Einen Monat lang waren sie unterwegs, legten auf ihrem Weg in die sieben ältesten Bischofsstädte der Bretagne rund 550 Kilometer zurück. Den modernen Menschen wurde das zu viel, die große Pilgerrunde geriet in Vergessenheit. In den 90er-Jahren wurde der Tro Breizh dann aber neu belebt – allerdings in vereinfachter Form. Wallfahrer von heute, ausgerüstet mit praktischen Outdoor-Accessoires, sind nur noch eine Woche unterwegs und legen dabei lediglich eine Etappe der großen Tour zurück.
Die keltische Kultur feiern die Bretonen längst wieder mit zahlreichen Musikfestivals. Allen voran das Festival Interceltique, das jedes Jahr im August im südbretonischen Lorient gefeiert wird. Mehrere Hunderttausend Musikfans aus dem In- und Ausland zieht die Mega-Veranstaltung in jedem Jahr an. Bretonische, irische, schottische und sogar australische Musiker berauschen ihr Publikum mit fetzigen Rhythmen und melancholischen Klängen – Sackpfeifen, Trommeln und Schellenkränze treffen auf Synthesezier und E-Gitarren. Zehn Tage wird gefeiert, etwa 200 Veranstaltungen stehen auf dem Programm – Dudelsackspieler ziehen durch die Straßen, Folk-Gruppen spielen am Abend im Fischerhafen auf, und die großen Stars der Szene bringen das Moustoir-Stadion mit markerschütterndem Celtic-Rock zum Kochen.