Menschen mit Charisma gibt es immer weniger, weil wir täglich alles über alle erfahren. Tattoos verzerren sich hässlich, wenn die Haut welk wird. Liebesherzen, in Bäume geschnitzt, dagegen wachsen mit. Der Vater, der nach dem Sonntagsessen eine Zigarre raucht, wo ist er hin? „Gerade gestern – Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten" heißt die Sammlung von kurzen Prosastücken von Martin Meyer.
Die Erzählungen bewegen sich zwischen Nostalgie und Gegenwartspathos. Meyer spürt dem Zahn der Zeit nach, zitiert Gewohnheiten, Redensarten, Filme, Automarken, die noch vor zehn oder 20 Jahren den Alltag bestimmten. Wie die Kleinanzeige, die dem einsamen Mann helfen sollte, die richtige Frau zu finden. Den Brockhaus, der längst von Wikipedia abgelöst wurde. James Bond ist ihm einen Text wert, aber nur die ersten fünf Filme mit Sean Connery, die noch einen „phänomenalen Rhythmus" hatten, der mit Action überlärmte. Für Meyer war Bond die weite Welt.
Aus seiner Kindheit – er ist 1951 geboren – kennt er die engen, platzarmen Zoos, in denen Tiere eher vegetierten als lebten. Moderne Tierparks sind naturnah und lassen den Tieren Platz. Aber wenn es zu kreatürlich wird, ist es auch wieder nicht recht: Als der moderne, dem Gebot der natürlichen Ernährung folgende Stockholmer Zoo eine Giraffe namens Marius schlachten ließ, um sie den Löwen vorzuwerfen, kam es zu massiven Protesten der Tierschützer.
Lange Zeit galt das Wort „kaputt" nur für Dinge, nicht für Menschen. Und kaputt bedeutete früher auch nicht das Ende. Es hatte eine „therapeutische Perspektive" – denn jetzt begann die Reparatur. Immer, wenn ein Onkel gestorben war, bekamen die Kinder seinen Wecker, um ihn auseinanderzunehmen. Bis er ganz kaputt war. Und dann setzten sie ihn wieder zusammen –
und gewannen so eine Ahnung vom Funktionieren der Dinge. Heute bedeutet „kaputt": weg damit. Die meisten Geräte sind so konstruiert, dass sie nicht zu reparieren sind.