In bislang unbekanntem Ausmaß haben sich renommierte Designer der Damenmode für die Sommersaison in Sachen Printmotiven von Künstlern oder genauer gesagt deren Werken inspirieren lassen.
Ist Mode Kunst? Die Antwort auf diese Frage ist seit jeher innerhalb des Kulturbetriebs mehr als umstritten. Pierre Bergé, der langjährige Lebensgefährte von Yves Saint Laurent und Mitbegründer des berühmten Pariser Fashion-Hauses, gab sich diesbezüglich einstmals einfallsreich sybillinisch: „Mode ist keine Kunst. Dennoch braucht es einen Künstler, um sie zu schaffen." Anders der Philosoph Theodor W. Adorno in seinem posthum erschienenen Werk „Ästhetische Theorie". Denn in seinen darin enthaltenen Überlegungen zur Kunst stellte Adorno Mode und Kunst auf die gleiche Stufe und verglich die Haute Couture (die Prêt-à-porter steckte noch in den Kinderschuhen) mit einem Werk von Picasso: „Trotz ihrer kommerziellen Manipulierbarkeit reicht Mode tief in Kunstwerke hinein."
Fest steht jedenfalls, dass immer, wenn sich in der Vergangenheit Mode in Richtung Kunst vorgewagt und damit die Grenzen zwischen diesen beiden Disziplinen ausgelotet hatte, in der Regel viel Lob oder viel Kritik laut wurde. Weitaus seltener lehnte sich die Kunst in Richtung Mode. Wenn das allerdings geschah, wenn Bildende Künstler also Klamotten entwarfen, wurden deren Mode-Kreationen stets als Kunstform angesehen. Heute sind Kunst und Mode allerdings fast nahtlos miteinander zu einem globalen Art-Style oder kreativen Lebensstil verschmolzen, bei dem die Kunst neben Mode, Design, Architektur oder populärer Musik nur eine Facette von vielen im breit gefächerten Kulturangebot darstellt. Kunst und Mode haben längst den Status von Widerparts überwunden. Das schlägt sich im Sommer deutlich in den Kollektionen einiger renommierter Designer nieder. Denn niemals zuvor dürfte mehr Kunst auf der Haut präsentiert worden sein als in der aktuellen Saison.
Maria Grazia Chiuri ließ sich für Christian Dior von der vor allem durch ihre „Nana"-Figuren bekannten Künstlerin Niki de Saint Phalle inspirieren und zeigte mit feuerspeienden Drachen geschmückte bretonische Seemann-Shirts oder mit einer Riesenspinne verzierte Strickwaren. Marni-Chefdesigner Francesco Risso machte Anleihen bei dem durch seine Bildzitate berühmten Amerikaner David Salle, was sich in Darstellungen von nackten, telefonierenden oder rauchenden Frauen auf Kleidern, Röcken oder Oberteilen niederschlug. Der kreative Kopf bei Calvin Klein namens Raf Simons orientierte sich beim ungekrönten König der Pop Art. Auch Donatella Versace hielt sich an die Pop-Art-Ikone Andy Warhol und benutzte neben farbenfrohen „Vogue"-Covern die legendären Siebdruck-Porträts des Meisters von Marilyn Monroe und James Dean als Kleiderschmuck.
Undercover-Kreativchef Jun Takahashi hatte sich vor einigen Jahren mit der wohl erfolgreichsten Künstlerin der Welt, Cindy Sherman, angefreundet, deren Fotografien im Dollar-Millionenbereich gehandelt werden. Ausgewählte Bilder Shermans tauchen auf T-Shirts, Kleidern und Mänteln der Undercover-Kollektion auf. Motive sind Shermans Selbstporträt, ihre üppig geschmückten Lippen oder einfach nur Landschaftsaufnahmen. Bei Coach interessierte sich Designer Stuart Vevers für die dekorativen Schnörkel und Kringel des US-Starkünstlers Keith Haring und übernahm sie für Klamotten und Taschen gleichermaßen. Beim Blick auf die neuen voluminösen Kleider von Comme des Garçons wurden etwas vorschnell die Werke des italienischen Spätrenaissance-Künstlers Giuseppe Arcimboldo als Vorlage genannt. Die typischen Früchte- und Gemüsekompositionen tauchen auf den Dresses zwar durchaus auf, aber die Designerin Rei Kawakubo hat auch noch andere künstlerische Einflüsse wie Blumenstillleben der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts oder japanische Manga-Motive verarbeitet. Das neue Designer-Duo Laura Kim und Fernando Garcia an der Spitze des Labels Oscar de la Renta hat sich ganz allgemein von der Pop Art begeistern lassen, von bunt-dekorativen Farbspritzern bis hin zu farbenfrohen Colour-Blockings. Actionpainting mit Farbspritzern à la Jackson Pollock war auch auf Klamotten von Calvin Klein, MSGM oder A. P. C. zu bewundern.
Ebenfalls jede Menge Bezüge zur Pop Art waren auf Kleidern von Balenciaga oder Christian Dior zu erkennen. Albert Kriemer, seines Zeichens Chefdesigner des Schweizer Labels Akris, holte sich seinen künstlerischen Anschub vom Amerikaner Alexander Girard und griff dessen riesige naive Holzfiguren als Motive auf zahlreichen Kollektionsmodellen aus Seide wie Kleidern, Hosenanzügen und Tops mit Fransen auf. Ganz allgemein abstrakte Kunst war die Inspirationsquelle für Marc Jacobs oder Marco de Vincenzo. Miuccia Prada setzte sich an die Spitze einer Reihe von Labels, für die Cartoons die Printvorlagen lieferten. Prada konzentrierte sich ausschließlich auf Comics von Frauen, gleich acht an der Zahl, aus den 1930er- und 1960er-Jahren. Jeremy Scott brachte die Flash-Animationsserie „My Little Pony" zu neuen Ehren. Bei Versace wurde die legendäre Cartoon-Serie von Gianni Versace aus den Jahren 1991 bis 1995 wieder neu aufgelegt. Auch Moschino, Gucci oder Annakiki haben mit Cartoons aufgepeppte Klamotten in ihrem aktuellen Sortiment. Selbst vor der Herrenmode machen Comics aktuell keinen Halt.
Der Prozess der wechselseitigen Abstoßung und Annäherung beziehungsweise des Dauerflirts von Mode und Kunst hat eine lange Tradition, er begann bereits vor mehr als 100 Jahren. Seit Baudelaire wurde die Mode immer mehr zum Inbegriff des Modernen. Der Dichter benutzte die Begriffe „Mode" und „Moderne" quasi synonym, um damit all das Flüchtige und Mögliche zu bezeichnen. Für Baudelaire sollte Mode „im Vergänglichen das Ewige suchen". Die Modernisierung der Gesellschaft wurde selbstverständlich auch von der künstlerischen Avantgarde begrüßt, die sich daher nicht selten auch als Mode-Designer versuchte. Gemäß der von Max Ernst vorgegebenen Marschrichtung: „Es lebe die Mode, nieder mit der Kunst."
Lange Geschichte der Kooperation
Kurz nach 1900 entwarf der belgische Jugendstil-Künstler Henry van de Velde für seine Ehefrau Maria ein Kleid ohne einengend geschnürtes Korsett, das locker über ihren Körper fiel und sie endlich durchatmen ließ. „Die Reformierung der Frauenkleider ist das letzte Feld, das der Kunst noch zu erobern bleibt", sagte van de Velde. Fünfzehn Jahre später erfand der italienische Universalkünstler Mariano Fortuny aus einem einfachen Seidenschlauch die berühmten Delphos-Roben, deren feine Plissees rund 70 Jahre später vom japanischen Modedesigner Issey Miyake aus High-Tech-Fasern nachempfunden werden sollten. In Paris stand Frankreichs erster Mode-Design-Star Paul Poiret in ständigem Kontakt mit den Malern Henri Matisse und Raoul Dufy, wobei letzterer Stoffmuster für den Couturier gestaltete.
Während und nach dem Ersten Weltkrieg sollte die Lust an Luxus und üppiger Dekoration in der Mode dann unter Führung der russischen Konstruktivisten und italienischen Futuristen der Funktionalität und den Erfordernissen der Massenproduktion weichen. Sonia Delaunay kreierte um 1915 in Paris ihre ersten bunten Simultankleider, Schals und Jacken. Die Russin Ljubow Popova schmückte nicht nur die Leinwand, sondern auch Kleider mit Kreis, Dreieck oder Quadrat. Parallel zu den funktionalen Tendenzen etablierte sich im Lauf der 1930er-Jahre unter dem Einfluss der Surrealisten Salvador Dalí und Meret Oppenheim ein neuer fantastischer Modestil. Zu den ergiebigsten Symbiosen der Kunst- und Modewelt zählt die Zusammenarbeit zwischen Dalí und Elsa Schiaparelli. Die exzentrische Konkurrentin von Coco Chanel entwickelte gemeinsam mit dem Spanier so Wunderliches wie den Schuhhut, Abendhandschuhe mit aufgenähten goldenen Fingernägeln, ein Diner-Dress mit rotem Hummer anno 1937 oder Handtaschen in Form eines Telefons. Ähnlich surrealistisch sollten erst viel später mal Jean Paul Gaultier und Franco Moschino arbeiten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entfernten sich Kunst und Mode nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich-ideologisch wieder voneinander. New York war das neue Zentrum des Kunstgeschehens, während die Haute Couture weiterhin in Paris blieb. Erst mit den Aufbruchsbewegungen der 1960er-Jahre, mit Pop Art, Performance oder Neo-Dada, fanden die beiden Disziplinen allmählich wieder zusammen. Vor allem dank Andy Warhol, für den eine Trennung von Kunst und Mode gar nicht existierte. Er experimentierte mit beidem und stellte aus seinen Siebdrucken ganze Kleider her. Legendär sein Tomatensuppen-Kleid aus Papier aus dem Jahr 1966. Ein Jahr zuvor hatte Yves Saint Laurent seine Cocktail-Dresses präsentiert, die bald unter dem Namen „Mondrian-Kleider" zu Weltruhm gelangen sollten und sich im Design an die Kunst des niederländischen Malers Piet Mondrian anlehnten. Auf Warhols Pop- Art-Fährte sollten später Designer wie Roy Halston, Jean-Charles de Castelbajac oder Gianni Versace wandeln. In den 1980er-Jahren wurden die Vernetzungen zwischen Kunst und Mode im Zeichen des Big Business immer enger. Plötzlich wurde sogar die Mode zum neuen Leitmedium, weil einige hochkreative Designer wie Rei Kawakubo, Martin Margiela, Hussein Chalayan, Alexander McQueen oder das Duo Viktor und Rolf plötzlich den Vorreitern der Kunst zeigten, wo es langging, indem sie Kleider und Stoffe dekonstruierten und die körperlichen Proportionen deformierten.