Angelique Kerber steht nun in einer Reihe mit Boris Becker, Steffi Graf und Michael Stich. Der Aufschwung des „Weißen Sports" zeigt sich auch an der Rückkehr in die TV-Programme.
Als sich Angelique Kerber ins Gras fallen ließ und auf dem Rücken im abgespielten, gräulich-staubigen Rasen des sagenumwobenen „Wohnzimmers" von Boris Becker, des Centre Courts von Wimbledon, wälzte, hatte die 30-Jährige noch ein weißes, kurzes Kleid an – genau wie vom detailgenauen Reglement des All England Clubs vorgeschrieben. Dessen 50. Turnier seit Beginn der „Offenen Ära" im Profi-Tennis hatte die Kielerin gerade gewonnen. Bei der Champion-Gala tags darauf tanzte die neue Weltranglisten-Vierte in roter Robe mit dem Sieger der Männer, dem Serben Novak Djokovic.
Angie rollte sich also auf dem Boden, wie 2016 nach ihren ersten Grand-Slam-Siegen bei den Australian und den US Open: glücklich, strahlend. Dann sprang sie schnell wieder auf, um Familie und Team zu umarmen. So, wie sie zuvor im 3:6, 3:6-Triumph-Match gegen die 23-malige Grand-Slam-Siegerin Serena Williams gesprintet, in die Hocke gegangen und wieder hochgeschnellt war, um mit ihrer Wendigkeit die eher stationär, aber gefährlich schlagstark agierende Amerikanerin ihrer Mittel zu berauben.
„Egal, was jetzt noch kommt, es ist ein Bonus", zeigte sich Kerber tiefenentspannt. „Ich suche immer eine Statistik, um Angie so gut wie möglich vorzubereiten", verriet ihr neuer Trainer Wim Fisette und fügte an: „Das Vertrauen wächst stetig. Ich versuche, ein paar kleine Sachen zu sagen, aber nicht zu viel, weil Angie mit sehr viel Gefühl spielt. Sie passt sich ihrer Gegnerin sehr gut an."
Mit umwerfendem Erfolg: Vom Hochhalten der Venus Rosewater Dish hatte die gebürtige Bremerin schon als Kind geträumt, als sie Steffi Graf im Londoner Vorort Gegnerinnen bezwingen sah. Jetzt war sie es, Angie, die Deutschland nach 22 Jahren sehnsuchtsvollen Wartens auf neuerliche Wimbledon-Weihen zurück in den Tennis-Himmel führte. Ins Mekka des Tennissports, das einst aus dem 17-jährigen Becker eine ewige Legende machte, und in dem Graf 1996 als bislang letzte Deutsche einen Titel – ihren siebten in Wimbledon – holte. „Wir müssen nun unser Wohnzimmer teilen!!! Steffi, Michael und ich… (vielleicht sollten wir es etwas vergrößern …)", twitterte Becker, für den der Centre Court eine Art Zuhause ist, in das so oder so aber noch einige Deutsche passen würden.
„Tolle Leistungen, die unserem Sport Auftrieb geben"
Je gelassener und souveräner Kerber agierte, desto selbstverständlicher fielen ihr die Siege Runde um Runde im All England Club zu. Am Ende sogar gegen Tennis-Ikone Williams, die ihren Vize-Titel allen „Moms" der Welt widmete, glücklich darüber, zehn Monate nach der mit Komplikationen verbundenen Geburt ihrer Tochter so weit gekommen zu sein.
Kerber ist jetzt Mitglied im legendären Zirkel der Champions von Wimbledon, die jederzeit wiederkommen, Tennis schauen, sich verwöhnen lassen und ein Schwätzchen mit den Royals aus dem englischen Königshaus halten können. Die Herzoginnen Kate und Meghan gratulierten Angie bei deren Defilee hoch zum Clubhaus-Balkon im grasgrau-dekorierten Finalmatch-Kleid herzlich, per Social Media auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Graf folgte via Smartphone und zusätzlich mit einer Nachricht an die Chefin der deutschen Tennisdamen, Barbara Rittner, in der sie laut DTB schrieb: „Ich habe mich wirklich sehr für Angie gefreut. Dieser Triumph ist ein klasse Erfolg." Doch Graf vergaß auch die anderen nicht: „Generell war das Wimbledon-Turnier für die deutschen Mädels hervorragend. Tolle Leistungen, die unserem Sport ein wenig Auftrieb geben sollten."
Fassungslos vor Glück war auch Julia Görges, als sie ins Halbfinale einzog und wieder Weltranglisten-Zehnte wurde. Auf dem ungewohnten Centre Court war die 30-jährige Regensburgerin dann allerdings chancenlos, weil Williams gegen „Jule" so gut wie noch nie in den vier Turnieren nach ihrer 13 Monate währenden Pause spielte. „Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Es ist unglaublich", sagte Williams. „Die Schwangerschaft ist so schwierig gewesen, und jetzt stehe ich im Endspiel." Die 36-Jährige verkörperte das pure Kraftpaket, eine Mauer, die mit jedem Schlag weiter hochgezogen wurde. Ihr hämmerndes, präzises Spiel zeugte vom unerbittlichen Willen, in ihr zehntes Wimbledon-Finale einzuziehen. Wieder gegen Angelique Kerber, wie 2016. Sehr gerne hätte Angie allerdings auch das erste deutsch-deutsche Finale seit 1931 ausgefochten. Egal. Nach einer Fahrradtour durchs nächtliche Wimbledon twitterte Görges nach ihrer Halbfinal-Niederlage: „Ich bin sehr glücklich, meine neue Verbundenheit mit den Rasenplätzen von Wimbledon bekannt zu geben … Wir haben einen netten Weg gefunden, erfolgreich miteinander zu arbeiten, meine lieben Rasenplätze."
Der Aufwärtstrend im deutschen Tennis ist bei Damen und Herren unübersehbar. Das musste auch das ZDF einsehen und übertrug das Finale zwischen Kerber und Williams live. Unangemessen frühzeitig ausgebremst wurden allerdings Andrea Petkovic, die sich nach einem brillanten Erstrunden-Match in der zweiten Runde auf dem Platz übergeben musste und ausschied, sowie Alexander „Sascha" Zverev, der sich ebenfalls mit einem „Garderobenraum"-Magen-Darm-Virus noch durch die dritte Runde schleppte. Der Weltranglisten-Dritte fühlte sich im vierten Satz gegen einen starken Ernests Gulbis, als wäre der Stecker herausgezogen. Während seines über zwei Tage gestreckten Zweitrunden-Auftritts gegen Taylor Fritz hatte der gebürtige Hamburger 24 Stunden nichts gegessen, sich nach dem zweiten Satz in einer Badezimmer-Pause ebenfalls übergeben. „Ich habe noch ungefähr 15-mal Paris zu spielen, 15-mal Wimbledon. Das wird alles noch, ich mache mir keine Sorgen", blieb der 21-Jährige entspannt.
Nach der Niederlage wollte die deutsche Nummer eins nur noch nach Hause und vom Tennis wegkommen. Das bedeutete bei ihm Zwischenstation in seinem kleinen
Appartement in Monaco und Abschalten auf einem Boot, bevor es an die Vorbereitung auf die Hartplatz-Saison ging. Diese wird ihn fordern: Gleich zwei Titel gilt es in Amerika zu verteidigen – Washington und Montreal. Bei den anschließenden US Open könnte der jüngere der zwei Zverev-Brüder seine Grand-Slam-Karriere weiter pflegen. Während Kerber in Wimbledon zur Championesse wurde, trainierte „Sascha" schon wieder dafür, auch einmal so weit zu kommen bei einem der vier größten Turniere der Welt, wie er in seiner Gratulation an Angie in den sozialen Medien schrieb.
Zverev hat zwei Titel in Amerika zu verteidigen
Seit 2013 war der auf Sieg in Serie gebürstete Roger Federer nicht mehr so früh aus dem prestigestärksten Tennisturnier der Welt ausgeschieden, ein Jahr nach seinem traumhaften achten Triumph mit 35 Jahren. Schlecht fand der 20-fache Grand-Slam-Sieger sein Viertelfinal-Match keineswegs. Offiziell zumindest. Wer die Qualitäten hat, ein Grand-Slam-Champion zu werden, sich durch zwei Wochen Matches und endlos angelegte Fünfsatz-Turniere zu kämpfen, der grantelt zumindest privatissime über ein unverhofftes Stopp-Schild. Wie etwa der Schweizer über seine irgendwie unnötige Niederlage mit 11:13 im fünften Satz gegen den mutig und überraschend variantenreich agierenden Außenseiter Kevin Anderson aus Südafrika. Und das, nachdem der Weltranglistenzweite im dritten Satz einen Matchball gegen die oft unterschätzte neue Nummer fünf der Welt vergab. „Es gibt Momente, in denen Du mit den Möglichkeiten wächst, aber ich tat es nicht", zitierte Wimbledons Social-Media-Dienst später seinen Serien-Star.
„Ständige Winner" wählte der Argentinier und US-Open-Sieger von 2009, Juan Martin del Potro, der so gern wieder einmal bis zum Ende in einem Grand Slam gespielt hätte, als sein relevantes Mittel, um sich des Ansturms durch Rafael Nadal zu erwehren. Ganz reichte es dann doch nicht. Der Spanier und 17-malige Grand-Slam-Sieger, eigentlich als „Sandplatzkönig" legendär, kam diesmal auf ungewöhnlich trockenem Rasen in fünf Sätzen mit einer sandplatzverwandten Taktik weiter als sein Erzrivale Federer. Als „Match des Turniers", wenn nicht des Jahres, sahen viele das fast fünf Stunden währende Viertelfinale, in dem sich die Kontrahenten ihre wuchtigen Schläge ohne Unterlass konzentriert entgegenschmetterten, jedem Ball hinterherhechteten und jeden Rückschlag wegsteckten.
Diesem Power-Match lief das längste Halbfinale in der 50-jährigen-Offenen-Ära-Historie von Wimbledon den Ausdauer-Rang ab: Die beiden über zwei Meter langen Aufschlagriesen John Isner und Kevin Anderson brauchten sechs Stunden und 36 Minuten, bis sich im fünften Satz der hagere Anderson mit 26 zu 24 Spielen gegen den körperlich völlig ausgespielten US-Boy Isner durchsetzte. Im Anschluss forderten die beiden, den fünften Satz künftig durch einen Tiebreak zu begrenzen.
Im nachfolgenden, zweitlängsten Halbfinale, gestreckt über zwei Tage, da in Wimbledon nach 23 Uhr nicht mehr gespielt werden darf, sah Rafael Nadal das geschlossene Dach und niedrig springende Bälle gegen sich und unterlag. Selbst ein Zitronenfalter setzte alles daran, Nadals Chancen zu verringern und Novak Djokovic ins Endspiel zu bringen.
Doch Anderson hatte in insgesamt 21 Stunden auf dem Club-Rasen seinen Power-Schlagarm ebenfalls erschöpft. Im Finale angelangt war er dort von Beginn an am Ende, auch wenn er sich im dritten Satz beim 6:7 noch einmal kräftig wehrte. „Ich hätte noch einmal 21 Stunden gegeben, um die Chance zu haben, hier draußen zu spielen", sagte der 32-Jährige nach seinem zweiten Grand-Slam-Finale in dieser Saison. „Papa, Papa", freute sich „Noles" kleiner Sohn Stefan am Rand, als er seinen Vater einen goldenen Pokal stemmen sah. Nach zweijähriger mentaler und physischer Desaster-Zeit, holte sich Novak Djokovic zum vierten Mal eine Gravierung im Siegespokal des All England Clubs. Der Serbe riss die Arme hoch, starrte in den Himmel, senkte sich nach unten und aß vom Rasen, der für viele Tennisspieler das ultimative Erleben bedeutet. Nun auch für Angie.