Nur dank seines im Vergleich zu seinen Verwandten im Tierreich riesigen Hirnvolumens konnte der Mensch die Welt erobern. Ein zufällig repariertes Gen ist dafür ursprünglich verantwortlich.
Vor acht Millionen Jahren gab es in der Evolutionsgeschichte eine ebenso unerwartete wie folgenreiche Panne. Bei einem gemeinsamen Vorfahren der heutigen Schimpansen, Gorillas und Menschen kam es zu einer Verdoppelung eines Gens namens Notch2. Dieses Gen spielt bei der Entwicklung von Organen – beispielsweise des Gehirns – eines Embryos eine ganz entscheidende Rolle. Die Verdoppelung gelang allerdings nur unvollständig und die neu entstandene Kopie war defekt, wie jüngst Forscher rund um den Bioinformatiker David Haussler von der University of California in Santa Cruz nachweisen konnten. Erst eine weitere Veränderung des Gens vor etwa drei bis vier Millionen Jahren habe es wieder funktionsfähig gemacht, allerdings nur in der menschlichen Linie. Genau ab diesem Zeitpunkt hatten die Gehirne der Homo-Arten deutlich an Volumen zugelegt, das menschliche Gehirn sollte sich um das Dreifache vergrößern auf heute etwa 1.350 Kubikzentimeter. Dabei hat die Großhirnrinde, die bei Denkleistungen besonders aktiv ist, am meisten profitiert. Die Notch2NL genannte Gen-Variante sollte sich in der menschlichen Evolutionsgeschichte noch zwei weitere Male verdoppeln, sodass beim heutigen Menschen insgesamt drei zusätzliche Kopien des ursprünglichen Notch2-Gens vorliegen.
Welch wesentliche Rolle Notch2NL in der embryonalen Entwicklung spielt, hatten bereits Forscher rund um Wieland Huttner, Professor am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, mit einer im Fachmagazin „eLife" veröffentlichten Studie zeigen können. Je mehr Stammzellen sich in diesem frühen Entwicklungsstadium durch verschiedene Verdoppelungsrunden herausbilden können, desto größer kann das Gehirn werden. Und je mehr Stammzellen es gibt, desto mehr Nervenzellen können aus ihnen hervorgehen. Laut Huttner und seinen Kollegen hat Notch2NL den Effekt, dass die Stammzellen zu zusätzlichen Verdoppelungsrunden stimuliert werden, bevor sie beginnen, Neuronen auszubilden. „Die evolutionäre Vergrößerung der Großhirnrinde beruht auf einer gesteigerten Fähigkeit der Vorläuferzellen, sich zunächst zu vermehren", so Huttner.
Mehrfache Duplizierung der Notch-Gene
Genau diesen Effekt von Notch2NL konnte ein internationales Forscherteam unter Leitung von Pierre Vanderhaeghen von der Université Libre de Bruxelles mit einer Studie auf Basis von menschlichen Vorläuferzellen in Zellkulturen belegen. „Einer der heiligen Grale von Forschern wie uns ist es, herauszufinden, was während der menschlichen Entwicklung für ein größeres Gehirn, insbesondere der Großhirnrinde, verantwortlich ist", so Vanderhaeghen.
Dass speziell das Gen Notch2NL eine wesentliche Rolle bei der Verdreifachung der Hirngröße gespielt haben könnte, hatten Haussler und seine Kollegen in Tierversuchen überprüft. Wenn Gehirnstammzellen von Mäusen das Gen hinzugefügt wurde, verzögerte sich die Ausreifung der Stammzellen zu Neuronen. Wenn das Gen entfernt wurde, reiften wesentlich mehr Stammzellen direkt zu Nervenzellen aus, was das Wachstum des Gehirns begrenzte. Der Bereich auf dem „Chromosom Nr. 1", in dem das Gen Notch2NL angesiedelt ist, wird als die Region angesehen, deren Veränderungen als Risikofaktor für eine ganze Reihe von Hirnentwicklungsstörungen wie ADHS oder Autismus gelten und auch für Erkrankungen, bei denen Gehirn und Schädel zu groß oder zu klein sind, verantwortlich gemacht werden. Daher hatte das Team um Haussler auch noch das Erbgut einer kleinen Versuchsgruppe von elf Patienten mit krankhaft kleinem oder großem Schädel untersucht.
Die Untersuchung ergab, dass das Fehlen eines bestimmten Chromosomenabschnitts, auf dem das Notch2NL-Gen zu finden ist, häufig mit einem kleinen Gehirn und Autismus einherzugehen scheint. Umgekehrt kann eine Verdopplung des Abschnitts ein vergrößertes Gehirn und Schizophrenie zur Folge haben. Während beim gesunden Menschen gewöhnlich drei Notch2NL-Gene auf dem Chromosomenabschnitt vorhanden sind, waren es bei einem zu kleinen Gehirn nur deren zwei und bei einem zu großen Gehirn deren vier. „Diese Resultate weisen darauf hin, dass die menschlichen Notch2NL-Gene die Entwicklung der Hirngröße kontrollieren", so Vanderhaeghen. Sprich: Mehr Kopien von Notch2NL wären für ein größeres, weniger Kopien für ein kleineres Gehirn ursächlich. Von daher ist laut Haussler und Kollegen die genetische Veränderung in der menschlichen Evolution als zweischneidiges Schwert anzusehen: „Die Entstehung von menschenspezifischen Notch2NL-Genen könnte zur raschen Entwicklung der größeren menschlichen Großrinde beigetragen haben, begleitet von einem Verlust der Stabilität des Erbguts am 1q21.1-Abschnitt und daraus resultierenden wiederkehrenden neurologischen Entwicklungsstörungen."
Auch der Zufall spielte eine Rolle
So bahnbrechend die Studien von Haussler und Vanderhaeghen in Expertenkreisen auch gelten mögen, so wird doch niemand behaupten wollen, dass das enorme Wachstum des menschlichen Gehirns ganz allein dem Notch2NL-Gen zu verdanken ist. Wahrscheinlich waren mehrere Gene daran beteiligt, beispielsweise auch das von Huttner schon 2015 entdeckte ARHGAP11B. Aber letztendlich dürften alle diese Gene durch Mutationen oder Verdoppelungen und damit primär aus Fehlern entstanden sein. Wodurch dem Sprichwort „Durch Fehler wird man klug" eine ganz neue Bedeutung verliehen werden kann. Auch der Zufall hat in der Evolution offenbar immer eine große Rolle gespielt. Denn ausgerechnet die Reparatur eines bestimmten Gens auf einem brüchigen Stück Chromosom hat vor Millionen Jahren den Weg zum modernen Menschen geebnet.