Während der deutschen Teilung entwickelte sich entlang des Grenzzauns auf einer Länge von 1.400 Kilometern ein Stück Wildnis – das Grüne Band. Doch in Sachsen-Anhalt und Thüringen wächst der Druck auf das einzigartige Biotop.
Durch eine Luke am Boden gelangt Dieter Leupold in die Beobachtungskanzel, nachdem er die steile Treppenleiter im alten DDR-Grenzturm hochgestiegen ist. Leupold ist stellvertretender Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland („BUND") im Landesverband Sachsen-Anhalt. Der ehemalige DDR-Grenzturm Hoyersburg steht in der Altmark, einem dünn besiedelten Landstrich im Norden Sachsen-Anhalts. Vor der Wende befand sich der Turm mitten im „Todesstreifen", im von der DDR-Grenztruppe streng bewachten Grenzstreifen. Heute führt Dieter Leupold regelmäßig Besucher zu dem verwitterten Mahnmal, das einsam in der Landschaft steht.
Der zwölf Meter hohe, viereckige Turm befindet sich mitten im Schutzgebiet Landgraben-Dumme-Niederung nördlich der Stadt Salzwedel. Er ist ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg, ein Relikt des Eisernen Vorhangs, der Deutschland und Europa jahrzehntelang teilte. Seit der Wende befindet sich der Turm im sogenannten Grünen Band, einem über 1.000 Kilometer langen Biotopstreifen, der sich von der Ostsee über den Harz bis zum Frankenwald zieht.
„Für die Menschen war die Grenze ein Fluch, für die Natur hingegen ein Glücksfall", sagt Leupold und zeigt auf das Landschaftsmodell der Grenzsicherungsanlage in der vergitterten Beobachtungskanzel. Seit vielen Jahren ist der 57-jährige Biologe in Sachsen-Anhalt für den Schutz und die Pflege des Grünen Bandes verantwortlich. Dreitagebart, graue Filzweste, dunkle Funktionshose, um den Hals ein großes Fernglas. Leupolds Job ist vergleichbar mit dem eines Rangers, eines Schutzgebietsbetreuers.
Ein Glücksfall für die Natur
Im Schatten des Grenzzauns konnte sich eine Fülle unterschiedlicher Lebensräume entwickeln. Damit die Wachsoldaten ein freies Sichtfeld hatten, wurden Bäume und Büsche regelmäßig gekappt. Nahe an der Grenze war es für Landwirte verboten, Felder zu bestellen oder Wiesen intensiv zu bewirtschaften. Aus diesen Gründen konnten sich entlang der ehemaligen Grenze verschiedenste Lebensräume entwickeln, wie feuchte Wiesen, blühende Heiden und Grasland.
Nach der Wende wurde die Bedeutung des Grenzstreifens als Refugium für eine Vielzahl bedrohter Tier- und Pflanzenarten erkannt. Naturschützer aus Ost und West setzten sich gleich nach der Grenzöffnung für den Erhalt der ehemaligen Grenze als Grünes Band ein. Ihrem unermüdlichen Einsatz ist es größtenteils zu verdanken, dass das Grüne Band auf einer Länge von fast 1.400 Kilometern und in 50 bis 200 Metern Breite heute der größte zusammenhängende Lebensraumverbund in Deutschland ist. Biotopverbunde sind besonders artenreich und wertvoll für den Naturschutz. Laut „BUND" haben hier über 1.200 Tiere und Pflanzen, die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen, einen Rückzugsraum gefunden.
Doch das Grüne Band droht nach Meinung von Naturschützern zu zerreißen. Besonders die intensive Landwirtschaft setzt dem ehemaligen Grenzstreifen offenbar zu. „Wenn Wiesen und Bäche zu Acker umgewandelt werden oder Straßen gebaut werden, ist das eine Bedrohung und gefährdet den Fortbestand dieses einzigartigen Refugiums", sagt Dieter Leupold. Er setzt das Fernglas an, denn er hat einen Rotmilan erspäht, der um den Grenzturm kreist. Der bedrohte Greifvogel ist auf Futtersuche in der frischgemähten Wiese. Ein Storch stelzt gemächlich durch das Gras und sucht ebenfalls nach Nahrung. Wenige Meter vom Turm entfernt schießt ein Fasan aus dem Gestrüpp, von Spaziergängern aufgeschreckt, und sucht schnell das Weite. Mit etwas Glück können hier weitere seltene Vögel beobachtet werden, wie Kraniche, Schwarzstörche oder Seeadler, die in den angrenzenden Feuchtwäldern brüten. Auch andere gefährdete Vogelarten wie das Braunkehlchen oder der Neuntöter fühlen sich im Grünen Band besonders wohl.
Das Grüne Band ist nicht nur ein Vogelparadies. Von der Beobachtungskanzel des Grenzturms hat man einen Blick auf Salzwiesen. Durch einen nah an die Oberfläche dringenden Salzstock wachsen hier, mitten im norddeutschen Tiefland, salzliebende Pflanzen, wie das Strandmilchkraut, Stranddreizack und Salzbinse, Pflanzenarten, die sonst nur in küstennahen Regionen zu finden sind. Auch eine seit vielen Jahren verschwundene Orchideenart, das Kleine Knabenkraut, wurde hier wiederentdeckt. Die zahlreichen naturnahen, das heißt nicht mit Steinen verbauten, Bäche oder Tümpel, bieten zudem selten gewordene Lebensräume für Insekten, Fischotter oder den Eisvogel.
„Um das Aussterben vieler Tiere und Pflanzen in Deutschland zu verhindern, müssen ihre Lebensräume verbunden werden, zum Beispiel durch grüne Korridore", erklärt Leupold. Zum Schutz der biologischen Vielfalt schreibt das Bundesnaturschutzgesetz den Bundesländern die Schaffung eines solchen länderübergreifenden Biotopverbundes vor. Deshalb versucht der „BUND" in dem Projekt „Lückenschluss Grünes Band" mit Bundesgeldern die zerstörten Lebensräume zu kaufen und miteinander zu verbinden, „wie an einer Perlenkette", sagt Leupold. Lücken im Grünen Band sind insbesondere Äcker, intensiv bewirtschaftete Wiesen und Straßen. Die ausgeschiedenen Flächen seien weiterhin landwirtschaftlich nutzbar, als Weideland für Rinder oder als Heuwiese, so Leupold.
Grüne Korridore sind Lebensräume
In der Landgraben-Dumme-Niederung unterstützen der Bund und das Land Sachsen-Anhalt den Ankauf von 130 Hektar durch den „BUND" mit 1,2 Millionen Euro. Dort befinden sich großflächige Niedermoorstandorte mit ausgedehnten Feuchtwiesen, Erlen-Bruchwäldern und Erlen-Eschen-Wäldern, die den einzigartigen Charakter dieses Gebietes prägen.
Doch Landwirte und Naturschützer sind sich nicht grün. Denn die Bauern befürchten eine Schwächung ihrer Betriebe. „Mit den zu erwartenden Bewirtschaftungsauflagen wie der Reduktion der Düngemengen und dem Verbot von chemischen Pflanzenschutzmitteln wird das Ertragspotenzial der ohnehin schwachen Böden weiter eingeschränkt", sagt Christian Apprecht vom Bauernverband Sachsen-Anhalt.
Uwe Lickfett teilt diese Befürchtung. Er ist Ackerbauer und Pferdewirt in Büddenstedt im niedersächsischen Landkreis Helmstedt, direkt an der Grenze zu Sachsen-Anhalt. Große Statur, sonnengebräuntes Gesicht, zupackende Hände mit schwarzen Rändern unter den Nägeln. Zusammen mit fünf Landwirten bewirtschaftet der 59 Jahre alte Bauer rund 1.000 Hektar Ackerland im ehemaligen Grenzgebiet. Raps, Getreide, Sonnenblumen. „Das hier ist doch schon ein Naturparadies", sagt er, während er den kilometerlangen und holprigen Kolonnenweg, der durch Feld, Wald und Wiese führt, im Auto abfährt. In seinen Augen sind die Naturschützer „ein bisschen zu ideologisch". „Braucht es wirklich noch mehr Buschland und Magerwiesen?" Rund um die stillgelegten Tagebauten im ehemaligen Helmstedter Revier habe sich die Natur das Land doch schon weitgehend zurückerobert, so Lickfett. „Teilweise sieht es dort aus wie in einem Urwald." Naturschutz sei ihm schon wichtig, aber: „Jedes fruchtbare Ackerland, das verloren geht, schmerzt."
Am Telefon erzählt Lickfetts Bewirtschaftungspartner Ernst-Heinrich Wietfeld, wie er nach der Wende fruchtbares Ackerland, das während der Teilung im sogenannten Niemandsland, zwischen Grenzzaun und Staatsgrenze, brachgelegen hatte, mühsam urbar machte. Der 62-jährige Landwirt aus Hohnsleben, einem ehemaligen Grenzort auf niedersächsischer Seite, spricht von einer „sanften Enteignung", wenn künftig kein konventioneller Ackerbau mehr möglich wäre. „Hier wird doch seit Generationen Ackerbau betrieben."
Schützenhilfe bekommen die Landwirte von der Landtagspräsidentin von Sachsen-Anhalt. Naturschutz sei zweifellos wichtig, sagt Gabriele Brakebusch. „Trotzdem darf es nicht sein, dass den Bauern fruchtbarer Boden aus der Nutzung genommen und über deren Köpfe hinweg darüber entschieden wird. Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen." Durch die Schaffung des Grünen Bandes könnte ein „grenzähnliches Gebilde" entstehen, wo weder eine land- noch forstwirtschaftliche Nutzung möglich wäre. „Deshalb muss das Grüne Band, insbesondere zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, durchlässig bleiben", so die CDU-Politikerin aus Harbke bei Helmstedt.
Bauern geht der Naturschutz zu weit
Damit stellt sich die Landtagspräsidentin gegen die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung, die ehemalige innerdeutsche Grenze zu einem „durchgängigen Grünen Band" zu entwickeln. Die Landesregierung plant einen entsprechenden Gesetzentwurf im nächsten Jahr in den Landtag einzubringen. Ziel sei nicht nur die Bewahrung des Grünen Bandes als Biotopverbund, sondern auch als „lebendiges Denkmal in der Landschaft für die friedlich überwundene Teilung Deutschlands", heißt es dazu aus dem zuständigen Ministerium. Geht es nach dem Willen der Landesregierung, soll das Grüne Band zudem als „Nationales Naturmonument", vergleichbar mit einem Nationalpark, unter Schutz gestellt werden.
Nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in Thüringen formiert sich Widerstand gegen das Vorhaben der Landesregierung, dem Grünen Band flächendeckend den Status eines Naturmonuments zu verleihen. In Thüringen verläuft mehr als die Hälfte des ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifens.
Der Bauernverband von Sachsen-Anhalt schlägt im Sinne eines Kompromisses vor, im Rahmen von Flurneuordnungsverfahren zusammen mit den Landeigentümern Flächen als Naturschutzflächen auszuweisen und dem Grünen Band zuzuschlagen, auch wenn diese Flächen nicht in Übereinstimmung mit dem früheren Grenzverlauf stehen würden.
„BUND"-Mann Leupold kann diesem Vorschlag nur wenig abgewinnen. Er setzt stattdessen auf direkte Gespräche mit der lokalen Bevölkerung und den betroffenen Landeigentümern. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass wir auf diesem Weg individuelle Lösungen finden können, die für beide Seiten stimmen." Schließlich, so fügt er an, bringe das Grüne Band auch Geld in die Region, weil so der sanfte Tourismus in strukturarmen Regionen angekurbelt werden könne.
Die Umwelt- und Landwirtschaftsministerin von Sachsen-Anhalt, Claudia Dalbert, versucht zu beschwichtigen. Die vom Lückenschluss betroffenen Flächen sollen weiterhin landwirtschaftlich genutzt werden können, teilt ihr Ministerium auf Anfrage mit. Möglicherweise müsse gemeinsam mit den Landwirten eine angepasste landwirtschaftliche Nutzung vereinbart werden. Als Ausgleich stellt die Ministerin Zahlungen in Aussicht. Bei besonders wertvollen Flächen sei der Ankauf oder freiwilliger Landtausch zu prüfen.