Im „Velvet" kommt nur in den Alkohol, was in Stadt und Region wächst. Die Bartender ernten Obst, Kräuter und Gemüse selbst, destillieren eigene Spirituosen in kleinsten Mengen. Sie experimentieren in ihrem Labor und am Tresen, um den Gästen wöchentlich wechselnde Drinks mit Überraschungseffekt zu kredenzen.
Die Herren vom „Velvet" haben sich augenscheinlich ihren Traum vom eigenen kleinen Chemie-Labor erfüllt: Im Hinterstübchen der Bar an der Ganghoferstraße werden Aromen aus selbst gesammelten Früchten, Kräutern und Gemüsen destilliert, zentrifugiert und in hochprozentigen, aromatischen Alkohol verwandelt. Die Reste werden getrocknet, gemahlen, und mit Zucker als intensiv schmeckender Glasrand-Schmuck verwendet. Im Keller findet überdies regelmäßig ein Kettensägen-Massaker statt. Allerdings nur mit Eisblöcken, die vorgesägt und später als Quader in Glasgröße per Messer zurechtgeschnitten werden. Ist das alkoholreiche Zauberwerk an Zentrifuge und Rotations-Vakuumverdampfer vollendet, entwickeln Barchef Filip Kaszubski und „Laborchef" Ruben Neideck am Tresen zwischen Flaschen, Gläsern und Deko-Elementen ihre wöchentlich wechselnden Kreationen. Rot hinterleuchtet glühen Bullaugen-Fenster vom Labor in die Bar und verbreiten geheimnisvolle Stimmung.
Mindestens genauso intensiv wie die Bullaugen leuchten uns die Drinks in unseren Gläsern entgegen. Auf schwarzen Stoff-Untersetzern gesellt sich zu einem Glas Wasser etwa eine „Rote Johannisbeere". So spektakulär der Anblick der mit weißen Beeren verzierten, blutrot durchscheinenden Flüssigkeit, so schlicht ist der Name des aus mit einem Old Tom Gin, Johannisbeer-Cordial, saurem Traubenverjus, Williams und Johannisbeerpuder hergestellten Cocktails. „Wenn die Karte jede Woche wechselt, ist es sehr schwierig, sich immer neue Namen auszudenken", sagt Ruben Neideck. „Deshalb sind die Drinks immer nach ihrer Hauptzutat benannt." Wir folgen gern der Aufforderung „Sip the season" auf der Karte. Nehmen ein, zwei, drei Schlucke von den zehn dort aufgeführten alkoholischen Kaltgetränken. Die Begleiterin erfreut sich an ihrem säuerlich-fruchtigen „tiefroten Schluck vom Sommer", wie auf dem Papier geschrieben steht. Wie war das doch gleich? Die Herren könnten keine Bar-Poesie? Von wegen.
Bei mir hat sich junger Nadelbaum in einem schlichten Glas mit transparenter Flüssigkeit niedergelassen: Ein „Maiwipfel", so ein anderer Name für Fichtensprossen, hockt auf einem Eisklotz. Er lässt sich von einem Mix aus Fichtensprossen-Gin, Zitrone, Fichtensprossensirup sowie Himbeer- und Haselnussgeist umspülen. Durch Milchfiltration, eine althergebrachte Filtertechnik, wurde das Getränk glasklar wie ein Gebirgsbach. So erfrischend wie eine Qualitätslimo und nur hintergründig alkoholisch, lässt er sich vordergründig harmlos wegtrinken. „Ich bin ‚Team Süß‘ und mag’s gern fruchtig", hatte ich Ruben Neideck zugerufen. Auf die Idee, den Fichtensprossen-Drink zu wählen, wäre ich selbst sicher nicht gekommen. Gute Sache, der Empfehlung des Barkeepers zu folgen! Das erlebt auch der Fotograf. Er ist gesundheitlich angeschlagen und verzichtet lieber auf Hochprozentiges und bekommt einen „Mocktail frei Schnauze" aus Holunderblüte, Verjus und Kräutertonic gereicht. „Ich frage die Gäste, in welche Richtung es gehen soll und lege spontan los", sagt Neideck. „Das macht Spaß."
Getränke werden spontan gemixt
Sicher ebenso viel wie das Ausspähen, Sammeln und Ernten der Zutaten. Montags und dienstags ist das „Velvet" geschlossen. Dann sind Neideck und Kaszubski in freier Wildbahn, Parks, Gärten und auch auf Friedhöfen unterwegs. Nehmen aus den Prinzessinnengärten wenig geläufige Gewächse wie Staudensilie mit oder pflücken unreife Brombeeren von den Sträuchern auf dem Invalidenfriedhof. „Da haben wir keine Fressfeinde", sagt Neideck lächelnd. Sie „laborieren" im wahrsten Sinne des Wortes mit Ernte und Spirituosen herum. Im Gerät mit dem schönen Namen Rotations-Vakuumverdampfer werden die Zutaten in ihre einzelnen Aromen zerlegt. „Das ist das sogenannte Geschmacksskalpell", sagt Ruben Neideck. Die Zentrifuge mit 15.000 Umdrehungen trennt feste und flüssige Bestandteile und ermöglicht eine hohe Dichtigkeit eines Stoffes. So entsteht schließlich aus destillierter Staudensilie, Mezcal, zwei Sorten Aquavit, Salz, Safran und einer klaren Tomatenessenz ein hochprozentiges und eiskaltes Gemüsesüppchen. Sollte ein bestimmtes saisonales „Grünzeug" nicht im Umfeld der Bar-Jäger und -Sammler in Berlin wachsen, kommt Olaf Schnelle ins Spiel. Er liefert mit seiner gleichnamigen Gärtnerei Altbekanntes und Neuentdecktes, das auf Vorpommerschen Böden wächst – etwa die Fichtensprossen für meinen post-maienhaften Drink. Man arbeitet mit bewährten Erzeugern zusammen und nennt sie auch gern: Der Biolandhof Zielke lieferte zur Saison Rhabarber, das Landgut Pretschen aus dem Spreewald steuert aktuell Tomaten bei. Was essen wir jetzt, nach der ersten Runde, eigentlich zu den Drinks? „Eine Zigarette?", antwortet Mitinhaber Robert Havemann halbernst. In der Bar selbst gibt es, außer den hervorragend gerösteten und gemischten Nüsschen von „Ed & Fred" aus der nahen Sonnenallee, nichts weiter zu essen. Hallo Schwipsalarm! „Im Umfeld gibt’s genug Gutes zu essen", sagt Havemann mit einem Wink auf den Pavillon von „Rixbox – Espresso und Food" auf dem Alfred-Scholz-Platz wenige Meter entfernt. Das „Velvet" ist außerdem eine Raucher-Bar, die mit hoher Decke und guter Lüftung, so Havemann, auch für Nichtrauchende eine angenehme Atmosphäre biete. An diesem Sommerabend könnten wir an den Tischen draußen sitzen und uns von einem warmen Lufthauch umwehen lassen. Da wir aber neugierig sind und über den Tresen hinweg Ruben Neideck bei der Arbeit zuschauen wollen, bleiben wir schön drinnen. Wir beobachten, wie die Bar sich im Laufe des Abends immer mehr dem Außen angleicht. Durch die großen Fenster hinter dem „rückenfreien" Spirituosen-Regal vermischt sich die äußere Dunkelheit mit der im Inneren.
Die Barmänner sind in der Szene keine Unbekannten: Neideck war zuvor als Barchef im „Ora" am
Oranienplatz; Kaszubski mixte unter anderem in „The Bar Marqués" in der Graefestraße. Im „Velvet" in Neukölln eröffnete sich beiden mit hochwertigen Spirituosen, Kräutern, Gemüsen und Früchten die Möglichkeit, immer wieder neue Spirituosen in kleinsten Mengen selbst herzustellen. Wir dürfen von den Resultaten, den sehr, sehr hochprozentigen Essenzen aus Bergamotteminze, Lavendel, Pfeilkresse oder Bronzefenchel, pur nippen. Ein winziger Schluck reicht oft, um volle Wucht im Mund zu erzeugen. „Wir verwenden sie nur tropfen- oder spritzerweise", sagt Neideck. Die Konzentrate ermöglichen ihm, etwa das rauchig-zitronige Bergamotte-Aroma ins Glas zu bringen, das ansonsten so gar nicht mit der selbst verordneten Regionalität konform gehen würde. Die getarnte Minze duftet sanft, zieht aber beim Probieren rauchig-scharf durch wie Medizin. Der Bronzefenchel spielt Pastis im Glas und würzt die Drinks mit Anis-Note. „Die Pfeilkresse hat Senföle wie Meerrettich oder Senf, deren Schärfe man mitdestillieren kann. Das geht bei Chili nicht." Stimmt. Wir spüren es. Der Lavendel wiederum schmeckt pur wie verschüttetes Wäscheparfum. Genau deshalb legt er sich nur hauchzart über den gleichnamigen floralen Gimlet. Der orangefarbene Mix aus indischem Rum, Lavendeldestillat, Rhabarber-Shrub, trockener Manzanilla und saurem Trauben-Verjus mundet auf den ersten Schluck „teeig" und schiebt dann erst das Blütig-Florale nach.
Robert Havemann, der auch das Restaurant „Rosa Lisbert" betreibt, übernahm im November 2016 gemeinsam mit Moritz Weilandt und Kilian Hohls die Bar. Sie brachten sie mit ihrem Ansatz, nur Frisches, Regionales und hochwertige Spirituosen in kleinen Mengen und ausgefallenen Geschmacksrichtungen zu kredenzen, neu in Schwung. Das findet großen Anklang – das „Velvet" gilt als Anlaufstelle für Freunde der gehobenen experimentellen Mixologie, nicht nur in Neukölln. So fancy die Drinks und das Konzept wirken mögen, so pur, schlicht und aufregend überzeugen die Getränke. Die Preise bleiben im sehr verträglichen Rahmen: Zwischen 11 und 13 Euro kostet ein Drink. Das animiert zur erneuten Einkehr – schließlich gibt es jede Woche Neues zu kosten. Was aus ist, ist aus. Was aus der Vorwoche übrig bleibt, wird neu kombiniert. Oder ist einfach so zu vernaschen: Ruben Neideck pult für uns aus einer dicken Bienenwachs-Schicht Süßkirschen aus ihrer Hülle.
So buttrig wie confiert springt uns der volle Kirschgeschmack mit einem Tick Honigaroma in den Mund. Das ist konserviertes Sommerglück, mit oder ohne Drink drumherum. Anders, überraschend und nachdrücklich. Wir trinken noch ein bisschen weiter und bleiben mengenmäßig glücklich im Bereich des Verträglichen, zumindest nach Ruben Neidecks Maßstäben. Mit der Weisheit des Barmannes, der so ziemlich alles Menschliche schon gesehen hat, weiß er: „Normalerweise verträgt man zwei Drinks. Wenn’s gut läuft drei. Und wenn’s nicht gut läuft, auch vier oder fünf."