Das antike Lykien liegt auf einer Halbinsel im Südwesten der Türkei. Archäologen erforschen seit 30 Jahren eine einstmals bedeutende Handelsstadt des Römischen Reiches. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte zeigt die Ausstellung „Patara – Lykiens Tor zur römischen Welt" noch bis zum 23. September.
Das Ungeheuer wartet. Magisch zieht es mich an. Ich umkreise es voller Bewunderung. Was gefährlich ist, fasziniert. Die Chimäre, ein feuerspeiendes Mischwesen mit Löwenkopf und -körper, einer Schlange als Schwanz und einem Ziegenkopf, der dem Rücken entspringt, hat einst Lykien bedroht. Der Held Bellerophon auf seinem geflügelten Pferd Pegasos besiegte die Chimäre. Bei den Dichtern Hesiod und Homer ist dieser Mythos überliefert. Die Chimäre, die den Blick gefangennimmt, ist aus Bronze gefertigt. Die Kopie gehört dem Archäologischen Museum der Martin-Luther-Universität Halle, das Original befindet sich in Florenz.
Thomas Martin, Kurator der Schau „Patara – Lykiens Tor zur römischen Welt" hat besondere Leihgaben zusammengetragen – an die 140 Exponate unterschiedlicher Kunstgattungen geben Einblick in Alltagskultur und Kunstproduktion der antiken Stadt. Die Ausstellung ist sowohl durch Leihgaben aus deutschen Museen, als auch durch eine Kooperation des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke München, des Deutschen Archäologischen Instituts, des Archäologischen Museums der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus und der Akdeniz-Universität Antalya ermöglicht worden.
Der Chimäre, mittig im Ausstellungssaal platziert, entkommt man nicht. Wer das Suchspiel „Wo-bitte-ist-die-Beschreibung?" – beim Objekt befindet sie sich nämlich nicht – erfolgreich löst, der staunt, dass die elegante und präzise gefertigte „Chimäre aus Arezzo" uralt ist: Das Fabeltier ist um 400 v. Chr. entstanden. Das etruskische Kunstwerk steht als Beleg dafür, dass ein lykischer Mythos andernorts Verbreitung fand.
Ein überlieferter Mythos
Sieben Amphoren, darüber eine Landkarte. Patara war nicht nur Sitz der römischen Statthalter in Lykien, sondern auch einst ein bedeutender Handels- und Hafenort. Die Amphoren, allesamt Originale, laufen spitz zu, sie lassen sich nicht hinstellen. In Metallgestängen ruhend, stehen sie im Museum jedoch aufrecht und aufgereiht. Welchen Sinn hat diese unpraktische Formgebung? Die Gefäße sind ineinander stapelbar, belud man Schiffe, gab dies Stabilität.
Die dickbauchige Gallische Amphore steht zwischen der schlanken Adriatischen und der Italienischen Amphore. Wein war deren Inhalt. In anderen Amphoren transportierte man Fischsoße und Olivenöl nach Patara. Jedes Gefäß ist unterschiedlich und in seiner Form perfekt. Mal sind die Henkel lang gezogen, mal gerundeter. Experten können sie ihren Merkmalen nach einer Region zuordnen. Die Warenströme lassen sich an der Landkarte nachverfolgen. Ich finde es anregend, den weitgereisten Tongefäßen gegenüberzustehen – Geschichte erzählt Geschichten. Die Amphoren waren sozusagen die Konservendosen der Antike. „Nach der Verwendung warf man sie auch einfach weg", erklärt Thomas Martin.
In unmittelbarer Nähe der Gebrauchskeramik ruht ein fünf Zentner schwerer Bleianker eines antiken Handelsschiffes in einem Sandbett. Der eine oder andere konnte nicht widerstehen, seine Finger- oder Handabdrücke zu hinterlassen. Gelegenheit zum Anfassen und Rumspielen bietet das kleine Holzschiffchen, das man mit Waren beladen, auch zum Kippen bringen darf. Im nächsten Saal nimmt eine beinahe wandhohe Fotografie die Aufmerksamkeit ein: das antike Theater. Bereits im Entree kann man als Einstieg zur Ausstellung eine Landschaftsfotografie betrachten, die die Übersicht auf das Gesamtgelände der archäologischen Stätte erlaubt. Sehr gut zu erkennen ist das Theater, das der größte öffentliche Bau der Stadt war. Fast 5.000 Menschen fanden auf 37 Sitzreihen Platz. Man meint, ein weiteres kleines Theater zu erkennen. „Nein", erklärt Thomas Martin, „es handelt sich um das Bouleuterion, das Ratsgebäude, in dem der Stadtrat tagte. Bei größeren Versammlung nutzte man das Theater." Das antike Theater in Patarta war von Sanddünen in weiten Teilen verschüttet. Das beeindruckte schon Reisende des 19. Jahrhunderts, das bezeugen die ausgestellten Ansichten.
Das antike Theater in Patara ist ein ursprünglich hellenistisches, das mit römischen, zeitgenössischen Elementen kombiniert, sozusagen einem Update unterzogen wurde. Während man noch im 2./1. Jahrhundert v. Chr. mit einem hölzernen einstöckigen Bühnengebäude auskam, errichtete man im 2. Jahrhundert n. Chr. in Patara ein steinernes zweistöckiges. Zudem schützte man die Zuschauer mit Sonnensegeln vor der Hitze. Eine Bürgerin Pataras war die Mäzenin. Die Grabungen in Patara beförderten eine entsprechende Inschrift zutage. Im informativen „Zaberns Bildband – Patara" finde ich den Namen der Theaterfreundin: Vilia Prokla. Die finanzstarke Theaterfreundin weihte ihre Baugeschenke 147 n. Chr. dem Kaiser Antonius Pius, den heimischen Gottheiten und ihrer Stadt.
Männer in Kostüm und Maske
Drei Bauelemente sind für das griechische Theater kennzeichnend: Die Orchestra, die Skené – das Bühnengebäude, an die Orchestra anschließend – und das Theatron, der Zuschauerraum. Der Chor bestand aus bis zu 15 Männern, es spielten maximal drei Schauspieler. Die Männer übernahmen alle Rollen, auch die weiblichen, und traten in Kostüm und Maske auf.
In einem Schaukasten fallen zwei fein gearbeitete Theatermasken aus Terrakotta auf: Dionysos und ein Satyr. „Die sind doch viel zu klein", hört Thomas Martin bei Führungen und kommt damit meiner Frage zuvor. „Dionysos, dem Gott des Weines und des Theaters, brachte man Weihgaben in dieser Form dar. Man hat diese Votivgaben auch als Platzhalter für die Gottheit betrachtet."
Ein weiteres Fabelwesen ist aufgetaucht, der spitzohrige Satyr. Wer ist dieser Geselle? „Der Satyr gehört zum Kultpersonal des Fest- und Partygottes Dionysos. Die Satyrspiele sind Mischungen von Theaterspiel und Kulthandlung." Beide Theatermasken wurden in der Westtürkei gefunden, doch der genaue Ort ist nicht überliefert.
Während die griechische Tragödie einst einen hohen Stellenwert genoss, bevorzugen die Römer leichte Unterhaltung. „Es werden fast nur noch Komödien mit flapsiger Sprache gespielt – Amüsement sollte es sein. Eine innere Läuterung, wie bei den Griechen, den Spiegel vorgehalten bekommen, das wollten die Römer nicht", beschreibt Thomas Martin den wesentlichen Unterschied und den Wandel im antiken Theater. Im letzten Ausstellungssaal wartet noch eine Entdeckung. Auf einer kleinen Ikone lässt sich, wenn man nahe herantritt, ein tobender Nikolaus sehen. Nanu? Wie benimmt sich der Heilige? Er zertrümmert einen Tempel. Schwarze Dämonen entfliehen. „Nach der Überlieferung soll Nikolaus in seiner Heimat energisch gegen noch vorhandene heidnische Kulte vorgegangen sein", lese ich auf dem Beschreibungstäfelchen. Was macht Nikolaus überhaupt in dieser Ausstellung? Myra, 80 Kilometer von Patara entfernt, ist sein Geburtsort.
Auf weitere Entdeckungen kann die Grabungsleiterin Havva İşkan, die zur Ausstellungseröffnung nach Saarbrücken gekommen war, wohl hoffen. So weiß man, dass in Patara ein Apollon-Orakel existiert haben muss. Der Münzfund, der darauf hinweist, ist in der Ausstellung zu sehen.
Mehr als 300.000 Touristen werden angegeben, die die archäologische Zone – in einem Naturschutzgebiet gelegen – jährlich besuchen. Thomas Martin konnte auch im Saarbrücker Museum schon einige begrüßen, die zu dieser archäologischen Stätte gereist waren.
Schickte mich ein Traum auf Reisen in die Antike und begegnete mir die Chimäre, rufe ich Bellerophan auf seinem geflügelten Ross um Beistand an. Kommt ein Satyr vorbei, verkleide ich mich als Mann und tanze mit. Orakelte mir Apollon ins Ohr, hätte ich es morgens leider vergessen …