Vor 30 Jahren hielt das wohl aufsehenerregendste Verbrechen der Nachkriegsgeschichte die Republik in Atem. Drei Menschen starben beim Gladbecker Geiseldrama. Journalisten überschritten bei der Berichterstattung Grenzen, indem sie mit Geiselnehmern und Geiseln sprachen. Während des Einsatzes beging auch die Polizei schwere Fehler.
Sie hatten sich in der Nacht zum 16. August 1988 ordentlich die Kante gegeben. Und dabei den folgenschweren Entschluss gefasst, am folgenden Morgen die Filiale der Deutschen Bank im Einkaufszentrum des Gladbecker Neubaugebiets Rentfort-Nord an der Schwechater Straße 38 zu überfallen. Die kurzfristige Beschaffung eines nötigen Fahrzeugs stellte für die beiden seit Jugendzeiten befreundeten ehemaligen Sonderschüler kein Problem dar. Der 31-jährige Hans-Jürgen Rösner besaß bereits ein ellenlanges Strafregister wegen zahlreicher Raubüberfälle und Einbrüche. Deswegen hatte er schon elf Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht. Im August 1986 war er untergetaucht, nachdem er einen Hafturlaub zur Flucht genutzt hatte. Sein Kumpel, der ein Jahr ältere Dieter Degowski, hielt sich mit Gelegenheitsjobs und Sozialhilfe über Wasser.
Gegen 7.45 Uhr stoppen sie am Dienstagmorgen mit dem gestohlenen Motorrad, einer roten Honda 250, vor der Bank, dringen mit geladenen Schusswaffen in den Schalterraum ein und bringen den Kassierer Reinhold Alles sowie die Kundenberaterin Andrea Blecker in ihre Gewalt. Auf dem Weg zu seiner im gleichen Gebäude gelegenen Praxis warf der Arzt Ali Kemmuna einen kurzen Blick in die Schalterhalle, wo er den von einem Täter mit einer Pistole bedrohten Kassierer erkennen konnte. Nachdem er den Überfall um 8.04 Uhr bei der Gladbecker Polizei gemeldet hatte, machten sich sofort zwei Streifenwagen auf den Weg zum Tatort. Doch die Beamten begingen einen fatalen Fehler, indem sie die Autos direkt vor der Bankfiliale parkten. Denn eigentlich wollten die beiden Täter mit ihrer Beute von 120.000 Mark schnellstens das Weite suchen. Als sie jedoch die beiden Polizeiautos vor der Tür sahen und daher davon ausgehen mussten, dass ihr Überfall schon entdeckt worden war, dass sie gewissermaßen in der Falle saßen, gingen sie in die Bank zurück, um die beiden Angestellten als Geiseln zu nehmen und damit ihre Flucht zu erpressen.
300.000 D-Mark und ein BMW
Zwar zog die Einsatzleitung der Polizei viele Beamte am Tatort zusammen, gab jedoch von Anfang an das Heft des Handelns aus der Hand. Statt die Telefonleitung der Bankfiliale zu kappen, ließ sie es zu, dass im Laufe des Tages immer mehr Journalisten mit den Geiselnehmern auf diesem Wege direkten Kontakt aufnehmen konnten. Und nicht nur das: Die Polizei ließ es sogar geschehen, dass Rösner, der sich zum Sprecher des Täter-Duos aufgeschwungen hatte, die Pressemeute anstelle der Polizei zum alleinigen Ansprechpartner für seine Forderungen bestimmen konnte. In einem Telefongespräch mit Reportern verlangte er daher schon drei Stunden nach dem Überfall 300.000 D-Mark und einen BMW als Fluchtauto. Das Geld wurde am späten Nachmittag übergeben, der Wagen, ein mit Peilsendern und Wanzen präparierter Audi 100, wurde am Abend bereitgestellt.
Gegen 21.45 Uhr verließen die beiden Gangster die Bank und machten sich mit ihren Geiseln vor einem Auflauf von Fotografen und Journalisten sowie vor laufenden Kameras mit dem Audi aus dem Staub. Allerdings stellten sie dabei die Fahnder vor ein gehöriges Rätsel, weil sie in aller Ruhe durch Gladbeck kurvten, um sich an Kiosk, Imbissbude oder Apotheke mit Alkohol, Zigaretten, Reiseproviant und Medikamenten einzudecken. Die auf ein solches Szenario offenbar völlig unvorbereiteten Beamten blieben den Tätern unauffällig auf den Fersen, einen Einsatzplan gab es nicht. Immerhin gelang es der Polizei, das Interesse der nach einem neuen Fluchtfahrzeug suchenden Täter, die zuvor einem Beamten Pistole und Funkgerät abgenommen hatten, auf ein zweites mit einem Peilsender präpariertes Auto zu lenken.
Eigentlich hätte man erwarten können, dass die Polizei die potenziellen Anlaufstellen der Täter in Gladbeck, nämlich die Wohnung von Rösners Schwester Monika oder von dessen Freundin Marion Löblich, unter Observierung gestellt hätte. Doch offenbar hatten die Beamten davon keine Kenntnis, weshalb Löblich in aller Ruhe gegen ein Uhr nachts abgeholt werden konnte. Ohne festes Ziel fuhr man zunächst Richtung Münster, dann weiter gen Osnabrück, anschließend nach Bad Oeynhausen, um sich schließlich wieder Richtung Ruhrgebiet zu halten. Am Morgen des 17. August 1988 konnten Täter und Geiseln unter den wachsamen Augen der Polizei im westfälischen Hagen frühstücken.
Rettungswagen nicht alarmiert
Danach ging es nach Bremen, weil Marion Löblich sich dort gut auskannte. Gemeinsam mit Rösner machte sie im Bremer Stadtteil Vegesack einen Einkaufsbummel, während Degowski die Geiseln im Auto bewachen sollte. Er nahm seine Aufgabe nicht sonderlich ernst, ließ sie sogar kurzzeitig allein, weil er dringend zur Toilette musste. Unglaublicherweise ließen die observierenden Einsatzkräfte selbst diese einmalige Chance zur unblutigen Beendigung des Geiseldramas ungenutzt. Inzwischen hatte die örtliche Presse Wind vom Aufenthalt der Geiselnehmer bekommen und hing sich gleich mit mehreren Fahrzeugen an deren Stoßstange. Zunächst ging’s nach Delmenhorst, wo die Herausgabe eines blauen BMW erzwungen werden konnte. Dann wieder zurück nach Bremen, wo das Fluchtauto gegen 18.30 Uhr beim Anhalten in der Nähe des Busbahnhofs Huckelriede von Journalisten live gefilmt wurde, die längst keinerlei Anstalten mehr machten, dem Aufruf des Einsatzleiters der Gladbecker Polizei, bis zur Festnahme der Täter keinerlei Berichte von dem Verbrechen mehr zu senden, Folge zu leisten.
Da Rösner offenbar angesichts der polizeilichen Dauerüberwachung die Nerven verloren hatte, gab er die Anweisung zum Kapern eines an der Haltestelle wartenden Busses der Linie 53 mit 32 Fahrgästen. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, scheuten etliche Pressevertreter nicht davor zurück, den Bus zu betreten und live auf Sendung Interviews mit Geiseln und Tätern zu führen, obwohl die Verbrecher dabei ihren Opfern sogar die Pistolen an den Kopf hielten. Die Polizei hatte immer noch keinen eigenen Ansprechpartner benannt, sondern beschränkte sich auf die Positionierung von Scharfschützen. Die neuen Forderungen Rösners, der der ARD mit dekorativ in den Mund geschobener Waffe Rede und Antwort vor 13 Millionen TV-Zuschauern stand, bezüglich eines unverwanzten Fluchtautos und eines gefesselten Beamten wurden wieder von Journalisten überbracht.
Da die Polizei sich nicht darauf einließ, nicht einmal nachdem Rösner vor laufender Kamera damit gedroht hatte, ein kleines italienisches Mädchen zu erschießen, setzte sich der Bus gegen 21.50 Uhr – nach der Freilassung von fünf Personen – mit 27 Bremer Geiseln in Bewegung. Beim Halt an der Raststätte Grundbergsee wurden zwar zunächst die beiden Gladbecker Bankangestellten entlassen, doch danach kam es infolge einer nicht autorisierten Festnahme von Rösners Freundin zur Eskalation. Noch vor Ablauf eines fünfminütigen Ultimatums streckte Degowski einen 15-jährigen Italiener namens Emanuele De Giorgio per Kopfschutz nieder. Dieser sollte anschließend verbluten, weil die Einsatzleitung für keinerlei Rettungswagen gesorgt hatte. Im Laufe der anschließenden Verfolgung des gen Niederlande rasenden Busses kam ein Polizeibeamter bei einem Unfall ums Leben.
Nach Verhandlungen mit niederländischen Sicherheitskräften bei Oldenzaal erhielten die Gangster am 18. August 1988, gegen 6.30 Uhr, einen BMW als neues Fluchtfahrzeug. Mit selbigem passierten sie kurz nach sieben Uhr, in Begleitung der zwei Bremer Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitle, die deutsche Grenze bei Gronau und setzten sich danach über Münster und Wuppertal, wo für die von Rösner versehentlich angeschossene Marion Löblich in einer Apotheke Schmerzmittel organisiert werden mussten, gen Köln in Bewegung. In der dortigen Fußgängerzone Breite Straße wurden die Täter ab elf Uhr sogleich wieder von Journalisten belagert, darunter auch der Chef eines lokalen Boulevard-Blattes, der ab 12.30 Uhr sogar als Lotse zur Autobahn Richtung Frankfurt im Geiselfahrzeug mitfuhr.
Degowski wurde bereits Entlassen
Nun endlich hatte die Einsatzleitung den Zugriff beschlossen und ließ daher das Fluchtauto kurz vor der Anschlussstelle Bad Honnef/Linz von einem gepanzerten S-Klasse-Mercedes rammen. Dabei wurde die 18-jährige Silke Bischoff tödlich von einer Kugel aus Rösners Waffe getroffen. Das Landgericht Essen sollte die beiden Haupttäter am 22. März 1991 zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilen. Degowski, auf den die Mafia einst ein Kopfgeld von einer Million Mark ausgesetzt hatte, wurde im Februar aus der Haft mit neuer Identität entlassen. Rösner, für den Sicherheitsverwahrung angeordnet worden war, wird womöglich auch bald freikommen.
Um aus dem heftig kritisierten Auftreten vieler Medienvertreter Konsequenzen zu ziehen, beschloss der Deutsche Presserat seinen Verhaltenskodex zu modifizieren. Danach sollten künftig Verbrecher während einer Geiselnahme nicht mehr interviewt werden dürfen und eigenmächtige Vermittlungsversuche seitens der Journalisten sollten unterbleiben. Den verantwortlichen Sicherheitskräften konnten schwere Organisationsfehler und psychologisches Ungeschick nachgewiesen werden.