Musik & Theater Saar führt Mozarts „Die Entführung aus dem Serail" ab 17. August im Merziger Zeltpalast mit einem neuen Libretto auf. Ein Probenbesuch.
Groß gestikulierend fächelt Bassa Selim. Er steht hinter Konstanze, die geradeaus in den Zuschauerraum blickt. Er verspottet die Spanierin. Sie aber bemerkt es nicht. Ein Wunder des Theaters. Jemand ist anwesend, aber dennoch nicht sichtbar. Der Zuschauer ist gewohnt, die Wunder des Theaters zu dechiffrieren.
Das Libretto des Mozart-Singspiels „Die Entführung aus dem Serail" stammt ursprünglich von Johann Gottlieb Stephanie, der sich seinerseits von einer Operette von C. F. Bretzner inspirieren ließ. „Wolfgang Amadeus Mozart – Die Entführung aus dem Serail – Oper in drei Aufzügen, Dichtung nach Bretzner von Stephanie d. J.", so zu lesen in meinem Reclamheftchen.
Musik & Theater Saar präsentiert eine neue Spielfassung, die man als „Dichtung nach Stephanie d. J. von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel" bezeichnen kann. Das Autorenduo Zaimoglu-Senkel schenkt der Figur des Bassa Selim Aufmerksamkeit und viel Text. Mehrere Monologe verzahnen sich abwechselnd mit den Gesangparts. Bassa Selim, dargestellt vom Schauspieler Boris Jacoby, nimmt eine zentrale Position in dieser Spielfassung ein und ist, wie in der Urfassung, eine Sprechrolle.
Konstanze ist im Palast des Bassa Selim gefangen
Konstanze (Robyn Allegra Parton) ist mit ihrer Zofe Blonde (Katharina Borsch) und Pedrillo (Edward Lee), dem Diener ihres Geliebten Belmonte (Gyula Rab), von Bassa Selim auf dem Sklavenmarkt gekauft worden. Die vier Reisenden wurden in den Wirren eines Überfalls getrennt. Doch Belmonte findet seine Angebetete wieder. Im Palast von Bassa Selim sitzt Konstanze gefangen im türkischen Harem, dem Liebeswerben des Bassa Selim ausgesetzt. Pedrillo und Belmonte schmieden einen Plan zur Flucht. Beinahe lässig steht Boris Jacoby als Bassa Selim an der Gittertür und beobachtet, wie die Vier ihr Wiedersehen feiern.
„Gefühle transportieren!" gibt Regisseur Andreas Gergen seinen Akteuren als Auftakt dieser Wiedersehensszene mit. Über seinen pathetisch gefärbten Ausruf muss er selber lachen und schickt hinterher: „Das Wort zum Sonntag!" Der Probentag ist ein Montag. Das Quartett nimmt Position auf der Bühne ein: Konstanze, Blonde, Pedrillo hinter der Gittertür, Belmonte davor auf der großen Spielfläche. Die Musik setzt ein, am Klavier sitzt der musikalische Leiter Stefan Bone. Konstanze läuft auf Belmonte zu. Umarmung. Gesang. „Ach, Belmonte, ach mein Leben", „Ach Konstanze, ach, mein Leben!"
Andreas Gergen hebt die Hand, unterbricht, wünscht sich zur Begrüßung eine Drehung. Das klappt beim ersten Versuch gar nicht. Gergen hilft und ruft: „Nehmt die Energie der Musik! Bam, ba!" Beim zweiten Versuch herrscht Verwirrung. Einmal oder zweimal drehen? Der Schwung fehlt, überschäumende Wiedersehensfreude sieht anders aus. Aber schließlich herrschen im Zeltpalast tropische Temperaturen an diesem Probennachmittag. Obwohl alle in Shorts auf der Bühne stehen, die Hitze macht zu schaffen – an dieser Stelle obendrein noch die Schwerkraft. Einen bereits hineininszenierten Kniefall nimmt Gergen wieder zurück, „Stopp!", ruft er, das sei zu „old fashioned" und an anderer Stelle: „Watch the person, you pass!"
Die Verständigung: mal Deutsch, mal Englisch. Die Sopranistin Robyn Allegra Parton und der Tenor Edward Lee sind in England geboren, der Sänger Gyula Rab in Ungarn. Es macht eher den Eindruck, dass Gergen sein Englisch praktizieren oder aufpäppeln möchte, immer wieder fragt er nach, wie dieser oder jener deutsche Begriff im Englischen heiße. Die Verständigung klappt bestens, auch das Stimmungsbarometer steht auf Hoch. Dabei haben sich Regisseur, musikalischer Leiter und die Akteure erst vor einer Woche in Merzig kennengelernt. Und noch dazu hat Andreas Gergen keinen der Mitwirkenden ausgewählt. Die Engagements hat Joachim Arnold, Chef von Musik & Theater Saar, übernommen. „Ich vertraue ihm", erklärt Gergen schlicht und lächelt gewinnend. Auch die Tatsache, dass die Probenzeit mit drei Wochen höchst knapp bemessen ist, bringt den Regisseur nicht aus der Ruhe. In der Regel ist für ein Projekt dieser Art eine Probenzeit von fünf Wochen usus. Der Regisseur Andreas Gergen hat vor allem viel Erfahrung, auf die er bauen kann und, was wohl noch wichtiger ist: Er versteht es, mit Menschen umzugehen. Das Quartett sollte sich nach der Befreiung von diesem Ort rasch fortbewegen. Zwar ist der Palastaufseher Osmin trunken gemacht außer Gefecht gesetzt, aber wer weiß, wie lange noch. Belmonte jedoch hat nichts Besseres zu tun, als Konstanze zu prüfen: „Doch ach, bei aller Lust empfindet meine Brust noch manch geheime Sorge." Er druckst langwierig herum, bis Konstanze direkt fragt: „Ob ich dir treu verblieb?" Was für ein Affront, diese Verdächtigung der Treuelosigkeit. Nun sind viele Worte und Noten nötig – Pedrillo und Blonde mischen kräftig mit – bis das Quartett vereint einstimmt: „Wohl, es sei nun abgetan! Es lebe die Liebe! Nur sie sei uns teuer, nichts fache das Feuer der Eifersucht an." Die Mozart‘sche Musik ist so allerliebst, dass man kaum Worte findet, höchstens: Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Die Musik auch.
Bezauberndes Singspiel von Mozart
Bassa Selim ist nahezu immer anwesend auf der Spielfläche. Er lässt uns erzählend teilhaben an den vergangenen Geschehnissen, kommentiert unmittelbare Ereignisse, gibt Einblicke in sein Seelenleben. Gerade malt er Konstanze die Zukunft aus. Die Zukunft, die ihr an der Seite von Belmonte, aus seiner Sicht, bevorsteht: „Nach der Heimkehr, nach der geglückten Flucht, lassen sie sich vom Pfaffen trauen." Mit „fabelhaften Damen" säße sie da und fächele. „Sie fächeln mit dem Fächer Luft ins bleiche Gesicht." Mit beiden Händen wedelt Boris Jacoby nahe an Robyn Allegra Partons Gesicht vorbei. „Da fächeln sie und schwätzen, sie schwätzen über Skandälchen und große Freuden." Er treibt seinen Spott weiter und malt der Verliebten ein sterbenslangweiliges Leben aus. Sein Groll deutet darauf hin, dass er langsam begreift, dass er Konstanzes Liebe nicht erzwingen kann. Aber wird sein Groll in Gewalt umschlagen? Ist er der Barbar, für den Konstanze ihn hält? Was sie nicht weiß, ist, dass Bassa Selim einer Intrige wegen Spanien verließ. In seiner neuen Heimat passte er sich an, machte Karriere und nahm den muslimischen Glauben an.
Die Vierergruppe hat sich inzwischen davongeschlichen. Pedrillo tut so, als wisse er den Weg, klettert den Zeltmast ein Stück weit hoch, als verschaffe er sich Übersicht. Regisseur Gergen ist achtsam und mahnt den Sänger Edward Lee dabei zur Vorsicht. Weiter sucht das Quartett an der Seite hoch über die Treppe an den Zuschauern vorbei den Weg in die Freiheit, in diesem Fall den Weg aus dem Zeltpalast. Andreas Gergen murmelt dem Grüppchen, das sich immer wieder ängstlich umsieht, „Dangerous mission", zu. Tumult. Osmin schnappt die Ausreißer. Heute allerdings nicht, denn Per Bach Nissen hat probenfrei.
Zündende Ideen, die überraschen können
Schon vorher schepperte es einige Male. Auf der Bühne sind große schwarze Blechtonnen zu sehen. Handelt es sich um Ölfässer? Bassa Selim poltert ab und an mit den Tonnen herum. Offenkundige Unmutsbezeugungen. Der Bühnenaufbau kommt ohne Schnickschnack aus und besticht durch Klarheit. Ein Gitter trennt die Spielfläche, die das Rund der Arena ausfüllt. Hinter der Gittertüre sind Stühle zu sehen, dort werden die Orchestermusiker – eingerahmt von stilisierten Birken – sitzen, zudem ist das Portal samt Balkon des Bassa-Selim-Palastes zu erkennen.
Wir glauben, das Ende des Singspiels zu kennen, wenn Konstanze, Belmonte, Blonde und Pedrillo einstimmen: „Nichts ist so hässlich als die Rache/Hingegen menschlich, gütig sein/Und ohne Eigennutz verzeihn/Ist nur der großen Seelen Sache!" Regisseur Andreas Gergen hat jedoch noch einen zündenden Gedanken, der am Ende der Inszenierung Wirkung entfalten wird. Theater ist eben nicht nur Wunder, Theater ist auch Überraschung!