Ob große zeitgenössische Tanzcompagnien oder hierzulande unbekannte Choreografen: Seit 30 Jahren bietet das Festival „Tanz im August" ganz unterschiedlichen Formen von Tanz eine Plattform. Und bezieht auch die Stadt selbst als Bühne mit ein. Ein Gespräch mit der künstlerischen Leiterin Virve Sutinen.
Frau Sutinen, 1988 wurde Berlin Kulturstadt Europas – und zum ersten Mal eine „Tanzwerkstatt" als Festival für hauptsächlich zeitgenössische Choreografen auf die Beine gestellt. Das Nachfolgeformat „Tanz im August" wartet jetzt mit einer Jubiläumsausgabe auf. Was macht das diesjährige Festival so besonders?
Natürlich feiern wir den 30. Geburtstag von „Tanz im August" mit einer ganzen Reihe von wirklich hochkarätigen Gastspielen – also gibt’s jede Menge Glamour und Tanzstars. So eröffnen wir beispielsweise mit dem „Ballet de l’Opéra de Lyon", das Choreografien von drei Ikonen des zeitgenössischen Tanzes präsentiert, von Lucinda Childs, Anne Teresa De Keersmaeker und Maguy Marin. Ein dreigeteilter Abend, der Beethovens „Große Fuge" von 1825 höchst unterschiedlich interpretiert.
Wir haben zum ersten Mal die Company Wayne McGregor in Berlin zu Gast, die bereits bei den „Movimentos" in der Autostadt Wolfsburg mit der Produktion „Autobiography" begeisterte. McGregor hat dabei seine DNA entschlüsseln lassen und zu Tanzsequenzen verarbeitet – eine rasante Achterbahnfahrt begleitet von den Sounds der Elektro-Musikerin Jlin. Zudem gastiert das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch für zwei Abende in der Stadt, in der Volksbühne Berlin steht das „Neue Stück II" auf dem Programm. Der norwegische Choreograf Alan Lucien Øyen hat diese Produktion gemeinsam mit den Wuppertaler Tänzern erarbeitet.
Große Namen, die problemlos große Theaterhäuser wie die Volksbühne Berlin oder das Haus der Berliner Festspiele füllen werden. Aber geht es nicht auch um die Mischung unterschiedlicher Formate und Orte?
In diesem Jahr werden insgesamt elf Orte bespielt – von unseren „Stammhäusern", HAU1, 2 und 3 bis hin zum Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst. Zum ersten Mal mit dabei sind unter anderem das Deutsche Theater, das Haus der Berliner Festspiele und die Galerie „Capitain Petzel". An der Bandbreite der Aufführungs- und Veranstaltungsorte kann man auch ablesen, mit welch unterschiedlichen Ansätzen die Compagnien oder Solokünstler arbeiten. Vom „White Cube" des Galerieraums bis zum Sportplatz, wir haben alles dabei.
… womit wir gleich bei einer Besonderheit des Jubiläums-Festivals wären: Im Programm finden sich zwei Produktionen, die an für Tanz doch sehr ungewöhnlichen Orten gezeigt werden …
Genau. Los geht es mit den „Action Heroes" der New Yorker Choreographin Elizabeth Streb. Sie zeigen ihr Stück SEA (Singular Extreme Actions) im Sony Center am Potsdamer Platz. Waghalsige, oft akrobatische Aktionen –
dafür ist Streb bekannt: Sie lässt ihre Performer beispielsweise auf schmalen Betonpfeilern balancieren, von Metallkonstruktionen herabhängen oder von riesigen Trampolins in die Höhe federn. Die Vorstellung in Berlin wird mit Sicherheit spektakulär – der Eintritt ist übrigens frei. Zum Ende des Festivals geht es dann auf den Lilli-Henoch-Sportplatz am Anhalter Bahnhof. Fußball und Tanz ist das Thema einer augenzwinkernden Performance der Katalanin Vero Cendoya mit fünf Fußballern und fünf Tänzerinnen.
Performances mal nicht im Theaterraum, sondern draußen wie am Potsdamer Platz: Da werden wohl sicher viele Zuschauer dabei sein, die sonst möglicherweise gar nichts vom Festival mitbekämen.
Das ist unser Hintergedanke. Das Festival bezieht die Stadt als Spielort mit ein, will auch bei jeder Ausgabe versuchen, neue Publikumsgruppen anzusprechen. Das gelingt uns mit den Outdoor-Projekten, aber auch mit unseren vielfältigen Publikumsformaten. Wir haben rund 40 verschiedene Angebote – darunter viele Gesprächsrunden, bei denen es aber nicht nur um die präsentierten Stücke, sondern auch um allgemeinere Fragen wie zum Beispiel „#MeToo" im Bereich Tanz geht.
Und wie sieht es beim diesjährigen „Tanz im August" mit den Vertretern der Berliner Tanzszene aus?
Da können wir mit einem Rekord aufwarten! Gleich sieben Berliner Compagnies sind beim Festival vertreten – beispielsweise Isabelle Schad, die im Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst ihre Produktion „Inside Out" zeigt. Constanza Macras und ihre Company „Dorkypark" sind mit einer Uraufführung dabei: In „Chatsworth" geht es um einen Township im südafrikanischen Durban, in dem indische Migranten während der Apartheid isoliert wurden. Macras lässt traditionellen indischen mit zeitgenössischem Tanz, mit Elementen aus Musical, Bollywood und Theater verschmelzen.
Indische Migranten während der Apartheid: Offenbar kommen ja auch gesellschaftspolitische Themen zur Sprache. Wie politisch ist denn das Festival?
Ich würde schon sagen, dass „Tanz im August" auch ein politisches Festival ist. Themen wie Digitalisierung, das Verhältnis zwischen dem Menschen, seinem Körper, der Technik spielen eine Rolle – beispielsweise in „Pixel" der Compagnie Käfig. Seit mehreren Jahren beschäftigen sich Choreografen immer wieder mit dem Thema Körperbilder – ein Beispiel bei dieser Ausgabe ist Silvia Gribaudi, deren Performerin Claudia Marsicano mit Virtuosität überrascht und den Zuschauer fordert, etablierte Sehgewohnheiten aufzugeben. Überhaupt: Die „contemporary body culture" wird in einigen Produktionen aufs Korn genommen – beispielsweise der Hang zur extremen Selbstoptimierung.
Aber das aktuelle Programm blickt auch zurück bis in die 68er-Jahre.
Eben weil zu der Zeit auch revolutionäre Entwicklungen im Bereich Theater und Tanz angestoßen wurden. Der belgische Choreograf Michel Vandevelde hat sich zusammen mit 13 Jugendlichen mit den 68ern beschäftigt. Und mit der Frage, was von ihren Idealen, ihren Frage- und Wertvorstellungen übrig geblieben ist. Der Titel des Stücks „Paradise Now (1968-2018)" bezieht sich auf die legendäre Produktion „Paradise Now" des New Yorker „Living Theatre". Die Theatertruppe hatte darin das Publikum mit Versatzstücken unterschiedlichster Ideologien konfrontiert, mit antikapitalistischen Slogans. Zur damaligen Zeit ein Skandal, auch wegen der zeitweise nackten Darsteller auf der Bühne.
„Tanz im August" ist 30 geworden – auch ein Anlass, das Konzept des Festivals angesichts veränderter Sehgewohnheiten zu überdenken?
Mit Sicherheit. Wir versuchen aktiv unterwegs zu sein, da es trotz vieler renommierter Festivals und etablierter Aufführungsorte weltweit nach wie vor schwierig für den zeitgenössischen Tanz ist. Die Fördermöglichkeiten werden nicht gerade besser. Also tritt das Festival selbst seit einigen Jahren als Koproduzent für internationale, nationale oder lokale Produktionen auf. So konnten schon einige sehr spannende Projekte realisiert werden, in diesem Jahr die Produktion „Passionaria" der katalanischen Compagnie „La Veronal". Dazu haben sich Theater und Festivals in Spanien, Frankreich, Luxemburg, Großbritannien und Deutschland zusammengetan. Was die veränderten Sehgewohnheiten betrifft – das versuchen wir auch mit unseren neuen Formaten wie den Outdoor-Produktionen ein Stück weit aufzufangen. Außerdem sind wir in ständigem Gespräch mit anderen Veranstaltern in Berlin, um gemeinsam an unserem Profil zu feilen.
Tanz ist eine flüchtige Kunstform – was bleibt von drei Jahrzehnten Festival?
Wir legen in diesem Jahr den Grundstein für ein Festivalarchiv – sowohl analog als auch digital. Die Tanzkritikerin Claudia Henne hat sich auf den Weg gemacht, eigene und andere Archive durchstöbert, zahlreiche Gespräche mit früheren Akteuren und Teilnehmern von „Tanz im August" geführt. Ein zweites Archivprojekt lädt Festivalteilnehmer unter dem Motto „Scribe" dazu ein, ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit Autoren und Autorinnen zu teilen. Am Ende des Festivals werden diese Aufzeichnungen dann öffentlich gemacht.