Trotz Erdogan – eine schwache Türkei liegt nicht im Interesse Europas
Manche werden sagen, sie haben es kommen sehen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sei mit voller Wucht in die Autokraten-Falle getappt, lautet ihre Erzählung. Das Drehbuch: Machtrausch, Hybris, Wirklichkeitsverlust, Totalschaden.
Man kann Erdogan zu Recht ein Allmachts-Syndrom unterstellen. Mit dem neuen Präsidialsystem hat er sich praktisch unbeschränkte Kompetenzen absegnen lassen. Er kann die Opposition nach Belieben schikanieren, die Presse mundtot machen und sich pausenlos als Retter inszenieren.
Parallel zur Selbst-Beweihräucherung findet der Kampf gegen die Feinde statt, die überall sitzen. Im Frühjahr 2017 war es Kanzlerin Angela Merkel, der Erdogan „Nazi-Methoden" unterstellt hatte. Grund: Türkische Politiker durften in Deutschland keine Wahlkampfreden für das Verfassungs-Referendum halten. Heute hat sich Erdogan auf US-Präsident Donald Trump eingeschossen. Dieser schütze den islamischen Prediger Fethullah Gülen, den angeblichen Drahtzieher des gescheiterten Putsches vom Juli 2016 im Exil, heißt der Vorwurf. Und er zettele einen „Wirtschaftskrieg" gegen Ankara an. Erdogan verschanzt sich hinter Verschwörungstheorien. Schuld sind immer die anderen.
Der dramatische Verfall der türkischen Lira zeigt aber gerade, dass sich Erdogan mit seiner Ich-gegen-den-Rest-der-Welt-Kampagne in die eigene Tasche lügt. Er hat den Unternehmen seines Landes jahrelang milliardenschwere öffentliche Aufträge verschafft. Schmiermittel war eine Politik des billigen Geldes der Zentralbank. Diese müsste jetzt eigentlich einschreiten, um die mit einer überhitzten Konjunktur einhergehende Inflation durch höhere Leitzinsen zu dämpfen. Doch Erdogan blockiert die Notenbank. Er will die Wirtschaft weiter unter Dampf halten.
Das löst eine fatale Kettenreaktion aus. Die internationalen Investoren ziehen ihr Kapital aus der Türkei ab und legen es in harten Währungen an – zum Beispiel in Dollar. Die Lira bricht ein. Türkische Unternehmen, die ausländische Kredite bedienen müssen, stehen blank da. Vor allem für südeuropäische Banken, die viele Milliarden Euro an das Land am Bosporus ausgeliehen haben, ist das ein Risiko. Da deutsche Geldhäuser in Südeuropa sehr stark engagiert sind, hängen sie mit drin. Deutsche Export-Firmen wiederum leiden an schwindenden Absatzmärkten, weil ihre türkischen Geschäftspartner die hohen Euro-Preise nicht mehr bezahlen können.
All dies ist jedoch kein Grund zur Schadenfreude. Die Türkei hat sich zu einem ertragsstarken Schwellenland entwickelt. Floriert es, ist es gut für Europa. Erdogan hat als Ministerpräsident in den Jahren ab 2003 vieles richtig gemacht. Er hat die Wirtschaft entbürokratisiert und die Voraussetzungen für einen langen Aufschwung geschaffen. In der aktuellen Finanzkrise hat er sich hingegen verrannt.
Die EU wäre gut beraten, die Türkei nicht abzuschreiben; es gibt auch eine Zeit nach Erdogan. Was nottut, ist strategische Geduld. Die Europäer und die Nato müssen mit dem Türken im Gespräch bleiben. Auch, was dessen Kuschelkurs mit „neuen Freunden und Verbündeten" im Osten betrifft – vor allem mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Die Entfremdung zwischen Erdogan und den USA beziehungsweise Europa hat bereits vor Jahren begonnen. Die Türkei arbeitet im Syrienkonflikt eng mit Russland und dem Iran zusammen, den Trump als den größten Unruhefaktor im Nahen Osten ansieht. Zudem hat Ankara russische S-400-Luftabwehrraketen bestellt. Bei der Nato ist man besorgt, dass Moskau als Gegenleistung Einblicke in moderne Waffensysteme des Bündnisses bekommen könnte, was für den Westen ein Sicherheitsrisiko wäre.
Lauthals vorgetragene Verdammung hilft allerdings nicht weiter. Die Türkei muss eingebunden werden, sie muss sich aber auch entscheiden, welcher Gemeinschaft sie zugehören will. Wenn Erdogan am 28. und 29. September zum Staatsbesuch nach Deutschland kommt, geht es um die Kunst des Dialogs hinter den Kulissen. Öffentliche Schelte bringt billigen Beifall auf der innenpolitischen Galerie, führt aber zu nichts. In der Ära der Autokraten, wo zwischen Washington und Peking verbale Muskelspiele hoch im Kurs stehen, ist der direkte Austausch wichtiger denn je. Wer nur noch mit waschechten Demokraten sprechen will, redet bald nur noch mit sich selbst.