Phillip Boa zählt zu den wenigen deutschen Musikern, die auch international Anerkennung finden. Er arbeitete nicht nur mit Bowie-Produzent Tony Visconti, sondern auch mit Mitgliedern von Faith No More und Slayer. Sein aktuelles Album „Earthly Powers" ist voller rätselhafter Metaphern zum Thema Freiheit.
Phillip Boa, „Earthly Powers" (deutscher Titel: „Der Fürst der Phantome") heißt auch ein Roman von Anthony Burgess, dem Autor von „A Clockwork Orange". Haben Sie das gleichnamige Buch gelesen?
Anthony Burgess hat eine Zeit lang in Malta gelebt und ist dort sehr zensiert worden. „Earthly Powers" ist einer der Romane, die mich seit Langem beschäftigen und beeinflussen. Er verlässt die Gegenwart und ist trotzdem nicht Science-Fiction. Eine Reise ins Metaphysische, die nicht anstrengend und sehr natürlich wirkt. Anthony Burgess hat auch schräge Komödien geschrieben wie „Enderby" und „A Clockwork Orange", was ich allerdings nicht gut finde.
Ist auch das Plattenmachen eine Reise ins Metaphysische?
(lacht) Warum nicht! Ich versuche, etwas Neues zu finden in einer Welt der Musik, die in allen Genres eigentlich komplett ausgebeutet worden ist. Das ist fast unmöglich! Selbst die aktuellen Bands klingen nach den 60er- oder 90er-Jahren. Ich versuche immer, die Rockklischees zu verlassen und eine Symbiose zwischen Text und Klang hinzukriegen, die in Richtung Soundtrack geht. Eine Mischung aus Essay und Kurzfilm.
Wie lange suchen Sie nach den Tönen?
Ich arbeite jetzt wieder wie früher. Die ersten zehn, 15 Jahre habe ich zuerst einen Text geschrieben und versucht, darin eine Welt zu entdecken. Dann male ich grobe Bilder und entwickle eine Geschichte wie einen Comic. Mit dieser Vorstellung gehe ich zu jemandem, der alles spielen kann. Der muss mir dann gewisse Auflagen erfüllen. Manchmal gelingt es uns, eine bestimmte Atmosphäre herzustellen, manchmal nicht. Ich bin eher Architekt als Musiker.
Haben Sie nach all den Jahren die perfekte Technik gefunden, Songs zu schreiben?
Ich versuche es, aber in der Kunst gibt es keine Perfektion. Ich will nicht stehenbleiben und höre mir viele neue Bands an, aber es ist schwierig, wirklich Neues zu entdecken. Zum Glück gibt es interessante Nebenschauplätze wie Reisen, Literatur, Film, im Netz surfen oder Leuten zuhören. Dann bekommt man Ideen.
Haben Sie das Album auf der Insel Malta geschrieben, die zu Ihrer zweiten Heimat geworden ist?
Ich schreibe meine Songs überall, unter anderem in Marokko, in den USA, in London. Dort habe ich mein altes Haus wieder bezogen. Mit Malta habe ich ein bisschen gebrochen, weil es sich sehr negativ entwickelt hat. Auf Malta gibt es inzwischen Online-Casinos an jeder Ecke, Briefkastenfirmen, Geldwäsche, und EU-Pässe werden dort verkauft. Das sind alles Spekulationen, denen ich mich anschließe. Und dann ist die bekannteste Journalistin Maltas umgebracht worden, was sehr hohe Wellen geschlagen hat. Ihr Sohn hat der Polizei, die als korrupt gilt, den falschen Laptop gegeben. Das sind die Gründe, weshalb ich mich von Malta entfremdet habe.
Empfinden Sie das heutige London als inspirierenden Ort?
Ich benutze London vorübergehend als Plattform. Dort leben der Bassist Oliver McKiernan und unsere aktuelle Sängerin Vanessa, die auch Konzertpianistin ist. Das Album wurde von Ian Grimble in den Church-Studios abgemischt. Er hat bereits unser „Loyalty"-Album gemixt. Mein bisher erfolgreichstes Album „Boaphenia" ist komplett in London entstanden. Ich habe zwar noch einen Wohnsitz in Dortmund, aber ich brauche ein Headquarter außerhalb Deutschlands, sonst fange ich noch an, deutsche Texte zu schreiben, die immer um Leben, Zeit und Welt gehen. Das möchte ich nicht.
Lieder zu schreiben und Konzerte zu geben, hat ja etwas Rauschhaftes. Wie süchtig sind Sie nach diesem Gefühl?
Ich denke, sehr süchtig. Sonst hätte ich wahrscheinlich schon aufgehört. Ich unterliege diesem Rausch, er ist der Kick. Zehn Jahre lief es für mich nicht so gut, aber jetzt wird es wieder besser.
Empfinden Sie Ihr Leben mit Mitte 50 noch immer als ein Abenteuer?
Mein Leben war schon immer ein Abenteuer, weil ich stets versuche, etwas zu entdecken. Ich bin viel gereist und habe vielen Leuten zugehört, die überhaupt nichts mit Musik zu tun haben. Valletta war immer eine supergute Quelle für alles Mögliche. Die Stadt war wie ein Transithotel, in dem keiner seinen Namen hinterlassen musste. Dort konnte man wirklich interessante Leute treffen. Aber das ist jetzt vorbei.
Der Anfang von „The Wrong Generation" erinnert an die englische Punkband The Fall. Deren Sänger Mark E. Smith war sperrig und rätselhaft, nie massentauglich, immer schlecht gelaunt. Sind Sie wie er ein „Meister des Neinsagens"?
Es gab mal ein Tele-5-Festival, wo wir beide gespielt haben. Bei mir ist das schiefgegangen, weil sie uns ins Playback geschickt haben. The Fall als britische Band durfte natürlich live spielen. Und wir haben uns blamiert, und ich bin deswegen ein bisschen durchgedreht. Aber hinterher an der Hotelbar war Mark E. Smith sehr freundlich zu mir und gab mir Tipps zum Neinsagen. Oder wie man sein Geld nimmt und wegrennt, bevor man ausgebeutet wird. Später habe ich ihn noch mal getroffen, und wir wollten zusammen auf Tour gehen. Da war sein Manager bei mir in der Küche. Aber wir konnten uns nicht über das Headlining einigen. Typen wie Mark E. Smith sterben aus, das ist echt schade.
Gibt es heute keine Super-Individualisten mehr?
Die Newcomer haben alle Angst um ihre Karriere. Sie wollen keine Gelegenheit verpassen, weswegen sie zu allem Ja sagen. Sie verdienen ja auch nichts mehr. Das ist ganz schlimm.
Wozu braucht man in Zeiten von Social Media und aktiver Selbstvermarktung überhaupt noch eine Plattenfirma?
Diese Fragen können Sie mir nächstes Jahr stellen, und dann sage ich Ihnen, dass man sie nicht mehr braucht. Aber jetzt habe ich es halt noch mal so gemacht. Cargo ist eine gute Firma. Ich liebe das Plattenmachen ja auch und verbringe viele Stunden mit meinem Designer Jochen. Wir legen Wert auf liebevolle, geschenkartige Verpackungen. Es ist ein bisschen nostalgisch, aber ich stehe dazu. Ich kaufe auch immer noch gebundene Bücher und laufe teilweise bewusst mit Zeitungen durch die Gegend.
Worum geht es in dem Song „The Wrong Generation"?
Bob Dylan sagt, gute Texte soll man nicht interpretieren. Und das Ding ist gut!
Könnten Sie es trotzdem mal versuchen?
Der Song spielt mit den Zeiten und reflektiert den Konflikt zwischen den Generationen. Okay, ich lebe in 2018, aber was ist 2018? Bin ich vielleicht in der falschen Zeit aufgewachsen, oder ist die junge Generation vielleicht in der falschen Zeit aufgewachsen? Ich gehöre zur zweitältesten Generation der aktiven Musiker. Sehne ich mich danach, später geboren zu sein? Möchte ich alles noch einmal so erleben, wie es 2018 ein 18-Jähriger erlebt oder möchte ich mich gern ins Jahr 1980 zurückbeamen lassen und würde da gerne 18 sein? Der Song geht um solche Dinge und ein bisschen um alles. Aber es ist mir unmöglich, ihn zu interpretieren. Den Songtext habe ich das letzte Mal vor zwei Monaten gelesen. Ich habe keine Ahnung, um was es da geht. Aber für die Tour muss ich ihn noch lernen.
Sind Sie manchmal noch nervös vor einem Auftritt?
Jeder Künstler hat Angst vor einem Blackout, deswegen hat er da zur Sicherheit eine Textmappe liegen. Einen Teleprompter finde ich doof. Ich habe manchmal Aussetzer bei „Container Love", weil das Gehirn Stress empfindet. Ich bin nicht der geborene Entertainer. In Berlin spielen wir vor 2.000 Leuten, und ich muss den Anfang von „Container Love" ganz alleine singen. Okay, das ist mein Job, aber trotzdem fühle ich mich dadurch unter Druck gesetzt.
Es gibt also Dinge in Ihrem Beruf, an die Sie sich nie gewöhnen werden?
Ja, aber ich bin nicht der einzige! Auch David Bowie ist mit Textmappe auf die Bühne gegangen. Bei „The Wrong Generation" geht es auch darum, dass sich die gesamte Welt der jungen Generation in ihrem Handy abspielt. Viele wollen gar keinen Besitz haben. Das finde ich faszinierend, weil es genau das Gegenteil von dem ist, was ich empfinde. Ich bringe von jeder Reise Andenken mit und stelle diese irgendwo hin. Und die Jungen haben überhaupt keinen Besitzanspruch mehr. Null! Mein Sohn ist genauso. Sein Zimmer sieht aus wie ein Zimmer im Motel One. Absolut unfassbar! Was ist da passiert?
Wie kritisch sehen Sie die Digitalisierung?
Ich stehe aufs Netz und finde es mittlerweile ganz faszinierend. Als ich „The Wrong Generation" geschrieben habe, las ich gerade ein Buch von Jaron Lanier. Er warnt vor dieser Welt, ist aber selber der totale Freak, ein Ex-Hacker. Er meint, die digitale Welt würde uns einiges an Freiheit wegnehmen. Ich habe mir auf Youtube ungefähr 30 Interviews mit ihm angesehen und mich dann hingesetzt und den Song geschrieben.
Welchen Tribut fordert die Kunst? Ist ein bahnbrechendes Werk ohne Weiteres zu haben?
Ich empfinde meinen Job überhaupt nicht als anstrengend. Er ist einfach nur schön. Momentan geht mir alles gut von der Hand.
Bei unserem letzten Interview sagten Sie: „Wenn man ein Album richtig macht, kostet das eine sechsstellige Summe". Wie haben Sie es diesmal gehalten?
Ungefähr so. Über die Jahre spielt man das auch wieder ein. Meine Band ist live relativ erfolgreich und hat ein gutes Merchandising. Meine Songs werden europaweit in TV-Produktionen gespielt. Es läuft wahrscheinlich besser als man denkt. Deswegen riskiere ich das einfach, ich kann es auch nicht anders. Wenn es gar nicht mehr funktionieren würde, würde ich sofort damit aufhören.
Was ist Ihnen persönlich wichtig in Ihrem Business?
Die Freiheit! Es ist viel Arbeit, aber sie ist nicht negativ belastet. Ich habe Songs, und dazu möchte ich einen Soundtrack finden mit Erzählerstimme und Melodie. Es ist einfach erfüllend, sonst hätte ich ja schon aufgehört. Ich fühle mich in jeder Hinsicht topfit. Auch meine Fantasie funktioniert noch.
Wie halten Sie es mit dem alten Leitsatz Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll?
Das ist ein langweiliges Klischee aus den 60ern. Ich habe mich immer fit gehalten, Drogen konnte ich nie vertragen. Ich habe immer wieder Musiker, die in die Band kommen und fragen: Warum nehmt ihr nicht mehr Drogen und trinkt mehr Alkohol? Dann antworte ich: Ich will morgen ein geniales Konzert spielen und topfit sein. Das ist viel wichtiger.
Wie erhalten Sie sich Ihren Optimismus in einer Zeit voller unerfreulicher Ereignisse?
Man kann auch als schwermütiger Mensch wichtige Musik machen. Ich denke heute viel positiver und optimistischer als vor zehn Jahren. Damals habe ich ständig an mir selbst und an meiner Arbeit gezweifelt. Optimismus ist auf jeden Fall hilfreich.
Hilft Kunst in schwierigen Zeiten?
Ich bin News-Nerd. Ich schaue alle möglichen Kanäle mit den verschiedensten politischen Färbungen. Ich bin fasziniert von Geopolitik. Es sind sehr verwirrende Zeiten, aber ich weiß nicht, ob ich die Gegenwart so negativ sehen würde. Dann würde ich vielleicht pessimistisch werden. Es bringt einen ja nicht weiter. Ich finde, es sind sehr interessante, herausfordernde Zeiten, und man muss die Probleme langfristig irgendwie lösen. Trump wird ja irgendwann wieder weg sein.
Was kann Musik alles bewirken? Hatten Sie da einen Schlüsselmoment?
Musik macht einen glücklich. Sie euphorisiert. Sie ist der Soundtrack zum Autofahren.
Mit welchem Künstler hatten Sie ein Schlüsselerlebnis?
Das waren Postpunkbands wie P.i.L., Magazine, XTC, Joy Division, New Order, The Clash. Ich habe zwar das Abitur geschafft, war aber überhaupt nicht gut in der Schule. Der Musikunterricht zum Beispiel hat mich überhaupt nicht interessiert. Es wurden immer nur diejenigen vorgezogen, die Klavier spielten. Ich konnte höchstens ein bisschen Blockflöte.
Die Band wird ab Januar 2019 auf eine umfangreiche Tournee gehen. Die genauen Daten werden noch bekannt gegeben.