Düstere Wildnis mit unberechenbaren Barbaren? Oder das Entdecken wundervoller Landstriche und ihrer kultivierten Bewohner? Die Sicht von außen auf Deutschland hat eine 180-Grad-Wende erlebt. Ein Ritt durch 2.000 Jahre Reiseliteratur.
„Nimm Dich in Acht vor jenen, die sich als Deine Freunde ausgeben!" Der römische Statthalter und Feldherr Publius Quinctilius Varus ist gewarnt, als er seine Truppen im Herbst des Jahres 9 n. Chr. in Gang setzt, um vom Fluss Weser ins sichere Winterlager am Rhein zurückzukehren. Allein, Varus schert sich nicht um Warnungen: Er hält sich an die Empfehlungen des unter Römern aufgewachsenen Cheruskerfürsten Arminius. Blind vertraut er dessen Vorschlag, auf einem Umweg durch unbekanntes Terrain gleich noch einen angeblichen Germanen-Aufstand niederzuschlagen. Mit bösen Folgen für die Römer.
Die Legionen stoßen in unwegsames Gelände vor, kommen an einen Engpass und müssen ihre über Jahrhunderte erprobte Marschordnung aufgeben. Genau da schnappt die Falle des Arminius zu, nimmt das tagelange Gemetzel seinen Lauf – Tausende mit Streitäxten und Speeren bewaffnete Germanen fallen in voller Kriegsbemalung über die Römer her. „Eingeschlossen in Wälder und Sümpfe", schreibt der römische Historiker und Kriegsteilnehmer Velleius Paterculus, „wurden sie Mann für Mann abgeschlachtet." Die verheerende Niederlage vor Augen durchbohrt sich Varus mit dem Schwert selbst. Auch das stößt bei Paterculus auf wenig Gnade. „Der Führer hatte mehr Mut zum Sterben als zum Kämpfen", spottet er. Volle drei Legionen werden im Kampf vernichtet, also 15.000 bis 20.000 Mann – rund ein Zehntel des gesamten Armeebestandes in der Blütezeit des Imperiums.
Trotz des kriegerischen Hintergrunds – die Römer gehören zu den frühen Reisenden in einem Gebiet, das später als deutsch bezeichnet werden sollte. Mit ihnen, allen voran Julius Cäsar und Tacitus, beginnen die Aufzeichnungen über unser Land: Marsch- und Reisenotizen über das Völkergemisch der Germanen, Sitten und Gebräuche, Lebensweisen, geografische Besonderheiten.
Eines fällt auf: Germanien war den Römern nicht geheuer. Besonders die Landschaft nicht. Als unwirtlich empfanden sie die baumbestandenen Landstriche, als dunkel und voller Gefahren. Schon Paterculus sprach von den „undurchdringlichen Hercynischen Wäldern" und meinte damit das Gebiet östlich des Limes zwischen Donau und Ostsee. Dass so viel angenommener Schrecken von Germanien ausging, dazu hat die Varusschlacht zweifellos beigetragen. Vorstöße der Römer in das Hinterland kamen zwar auch noch 200 Jahre nach der Varusschlacht vor, wie jüngste Funde im Harz belegen. Diese stellen so die Geschichtsschreibung auf den Kopf. Vorstöße blieben aber die Ausnahme.
Aber nicht nur finstere Wälder störten, sondern auch das Volk – oder eher: die Völker. Eine der wichtigsten Quellen dazu ist „Germania" von Tacitus, verfasst am Ende des 1. Jahrhunderts. Die Germanen galten den Römern als „Barbaren", als roh und ungebildet. Und sie tranken gerne. Nicht selten maßlos. Bevorzugt wurde ein „Saft aus Gerste oder Weizen" – Bier also. Bei solchen Gelagen ging es hoch her, da flogen die Fetzen. Kippte die alkoholgeschwängerte Stimmung, ließen sich die Männer nicht lumpen, stellte Tacitus fest: „Die unter den Trunkenen oft entstandenen Streitigkeiten enden selten mit Schimpfereien, häufiger mit Mord und Totschlag."
Nach den Römern kam lange Zeit nichts. Kaum ein Fremder, der das werdende deutsche Land bereiste und davon in Wort und Schrift Kunde gab. Eine Ausnahme ist der Wanderprediger Bernhard von Clairvaux, der im Jahr 1146 Speyer, Frankfurt und Trier besuchte und durch seine Wunderheilungen einen Massenandrang in den Städten auslöste, sowohl bei den Armen als auch bei den Reichen. Sein Sekretär Gaufrid von Auxerre führte Buch darüber.
Die Ära der ausländischen Deutschlandreisenden sollte erst noch anbrechen. Spät, wenn man so will, es vergingen noch einmal ein paar Jahrhunderte. Mit gutem Grund: Unterwegs war man meist im Tross irgendeiner Armee oder im Dienst von Kirche oder Wissenschaft. Wer konnte es sich leisten, aus purem Vergnügen durch die Welt zu ziehen? Und wer konnte noch dazu schreiben? Die allerwenigsten.
Schönes und Merkwürdiges
Einer der Ersten, der aus reiner Lust reiste und kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges nach Frankreich, Italien und Deutschland kam, war Thomas Coryate. Der englische Pastorensohn, vornehmlich zu Fuß unterwegs, beschrieb mit spitzer Feder, was er 1608 sah und erlebte. Seine Reiseberichte, die „Crudities", wurden legendär.
Die Beschreibung seiner Rheinfahrt löste einen wahren Hype unter den Adligen Englands aus: Der Rhein wurde durch ihn zu einem der Etappenziele der „Grand Tour" durch Mitteleuropa. Coryate, der heute als der Vater der Reiseliteratur gilt, beschrieb die Schönheiten des deutschen Stroms, Burgen und uneinnehmbare Festungen wie Ehrenbreitstein bei Koblenz, die edlen Weine, die prächtigen Städte zwischen Basel und Köln. Aber auch alles Merk- und Denkwürdige: Die Unerbittlichkeit der Zöllner; die Sitte, Fahrgäste auf den Rheinschiffen zum Rudern zu zwingen; die Grausamkeiten der Freibeuter und Räuber und der Umgang mit ihnen, wenn man ihrer habhaft wurde: „Viele von ihnen entwischen, weil die Wälder so nahe sind, doch wenn man sie fängt, dann werden sie grausam gefoltert und auf das Rad geflochten."
Im Jahr 1748 trieb es den schottischen Philosophen David Hume nach Mitteleuropa, jedoch nicht freiwillig. Seine finanzielle Lage zwang ihn dazu, die Reise als Sekretär des Generals Sinclair anzutreten. Die Meinung, die Hume von Deutschland gewinnt, ist zunächst nicht günstig. Über die Stadt Köln schreibt er: „Sie ist äußerst heruntergekommen und gerät sogar in Verfall … so als ob die Stadt jüngst eine Pest oder Hungersnot erlitten hätte." Doch je mehr er die Städte und blühenden Länder an Rhein, Main und Donau erlebt, desto mehr ändern sich seine Ansichten. Am Ende seines Reisejournals notiert er: „Deutschland ist zweifellos ein sehr feines Land, voller fleißiger, ehrlicher Menschen."
Nach und nach rückten auch andere Standorte ins Interesse der Reisenden. Populär wurden der Schwarzwald und der Harz, auch Städte wie Heidelberg, München, Dresden, Berlin. Später dann folgten im Zuge des Bädertourismus Nord- und Ostsee, Inseln wie Norderney, Rügen und Hiddensee.
Der berühmte Frauenheld Giacomo Casanova beschrieb seine „Audienz bei Friedrich dem Großen" im Jahre 1764, Dorothy Wordsworth ihre „Reise nach Hamburg" 1798. Der feinsinnige und äußerst beliebte russische Schriftsteller Nikolai Michailowitsch Karamsin schließlich machte das Genre der „Reisebriefe" bekannt. Während seiner ausgiebigen Tour durch Europa führte ihn der Weg auch in die Hauptstadt Preußens, Königsberg, wo es am Nachmittag des 19. Juni 1789 zu einer „dreistündigen Unterredung" mit dem betagten Immanuel Kant kam. „Ein kleiner hagerer Greis", schreibt Karamsin, „von einer außerordentlichen Zartheit und Weiße empfing mich. Wir sprachen über Reisen, von China, Entdeckungen neuer Länder", – und über die moralische Natur des Menschen.
Die 1803 unter Napoleon aus Frankreich ausgewiesene einflussreiche Bankierstochter und Salondame Madame de Staël schließlich trug im Ausland wesentlich zum Run auf Weimar bei. Dabei war das, was sie zunächst von Deutschland wahrnahm, nicht mehr als kaltes Grauen. Doch nach Treffen mit Wieland und den Dichterfürsten Schiller und Goethe kennt der Überschwang kein Halten mehr. „In Frankreich studiert man die Menschen, in Deutschland die Bücher", schreibt sie, und: „Die Nation ist von Natur literarisch und philosophisch." Ein andermal lobt sie das Verhältnis der Deutschen zur Musik, zur Rechtschaffenheit und Religion; diese habe „in Deutschland ihren Sitz im Innersten des Herzens". Nur mit der Vaterlandsliebe, konstatiert sie, tue sich der Deutsche schwer.
Das Reisen durch deutsche Lande blieb eine ungeheure Strapaze. Nicht wenige beklagen sich über die schlechte Federung deutscher Post- und sonstiger Kutschen. Einer von ihnen ist der schwedische Romantiker Per Daniel Amadeus Atterbom, der sich 1817 über Greifswald langsam Richtung Süden vorarbeitete. Sobald man eine Stadt erreichte, wollte sich der „Postillon vor Mädchen und Bekannten als glänzender Hippodromist zeigen; deshalb jagt er unbarmherzig toll durch die langen, schlecht gepflasterten Straßen, so dass den armen Passagieren auf ihren Holzbänken zumute wird, als ob ihnen Leber und Lunge aus dem Leibe springen".
Kuraufenthalt oder Festspielbesuch
Enge Kutschen, schlechte Wege, schlichte Herbergen, unerträglich kalte Kirchen, viele Zollgrenzen – am Reisekomfort mangelte es gewaltig. Das sollte sich ändern mit dem Aufkommen der Dampfschiffe und Eisenbahnen. Mit Volldampf und gut gefedert ging es in die Neuzeit. Die Frankenstein-Autorin Mary Shelley kam 1842 zur Kur nach Bad Kissingen. Mark Twain bummelte 1878 am Neckar. Virginia Woolf erlebte 1909 die Bayreuther Festspiele. Und der Pop-Art-Künstler Andy Warhol machte 1980 ganz eigene Erfahrungen. Er besuchte die Herta-Wurstfabrik und notierte: „Überall Plunder" und Schweine, aber auch eine Menge Kunst; denn, so zitiert Warhol den Fabrikinhaber, „er verkaufe dadurch mehr Würste, weil seine Leute sehr glücklich seien".
„Reisen heißt leben", schrieb Hans Christian Andersen ins Tagebuch, als er 1831 eine Reise in die Sächsische Schweiz unternahm. Oder anders: Reisen überwindet Grenzen, Reisen macht glücklich. Das Glück des Reisens durch hiesige Gegenden wurde für den Dänen Andersen schließlich so eindrücklich, dass er Deutschland am Ende seines Lebens seine „zweite Heimat" nannte.