Die Konjunktur brummt, die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie nie, Deutschland erzielt wieder Rekordüberschüsse im Export – nur die notorischen Schwarzseher sprechen noch von Krise. Sind wir wirklich so sicher? Fragen an Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Seit Ausbruch der globalen Finanzkrise sind zehn Jahre vergangen. Ausgelöst wurde sie durch den Zusammenbruch des Immobilienmarkts in den USA. Sie führte zur tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Banken gingen pleite oder mussten teuer gerettet werden, die Aktienmärkte stürzten ab und Länder mussten unter finanzielle Rettungsschirme schlüpfen. Die Nachwirkungen sind heute noch in Form eines mageren Wirtschaftswachstums und politischer Verwerfungen zu spüren: Brexit und sogar die Wahl von Trump lassen sich auf diese Krise zurückführen.
Herr Fratzscher, liegt das Schlimmste mittlerweile hinter uns? Haben sich Staat und Wirtschaft erholt?
Europa ist noch nicht wieder so stark wie die USA, aber auf einem guten Weg. Wir haben das höchste Wirtschaftswachstum seit zehn Jahren. Das wird auch mindestens noch zwei, drei Jahre anhalten. Viele Regierungen haben wichtige Wirtschaftsreformen umgesetzt und ihre Banken umstrukturiert. Ich bin insgesamt optimistisch, obwohl die Risiken natürlich noch vorhanden sind: der Brexit, die Bankenkrise in manchen Südländern, der Handelskonflikt mit den USA ...
Die EZB spielte mit ihrer Niedrigzinspolitik eine entscheidende Rolle. Was passiert, wenn sie die Zinsen wieder erhöht?
Bei aller Kritik – die EZB hat einen sehr guten Job gemacht. Ohne ihr beherztes Eingreifen wäre alles noch schlimmer gekommen. Natürlich wäre heute eine Normalisierung der Zinsen wünschenswert, aber die wirtschaftliche Erholung steht ja noch am Anfang. Bis zu einer Zinserhöhung wird es noch dauern. Der Zinssatz muss auf die wirtschaftliche Entwicklung reagieren – nicht umgekehrt.
Damals ging es um Überschuldung und eine Immobilienkrise. Heute sprechen wir von den überschuldeten Euroländern Griechenland und Italien – kann sich das zu einer neuen Krise entwickeln?
Nein. Das Problem ist nicht die Überschuldung, zumal Griechenland einen großen Teil der Schulden erst ab 2032 zurückzahlen muss. Das Problem sind die politischen Verwerfungen etwa in Italien. Wenn die Fünf-Sterne-Regierung auf die Idee käme, ein Referendum über den Euro-Ausstieg anzusetzen, bekäme die Eurozone ein Problem. Die Folge wäre, dass die Anleger sofort ihr Kapital abziehen würden, Italien ginge pleite. Damit würde auch Deutschland in Schieflage geraten, denn unser Handel, unsere Investitionen und viele unserer Banken sind ganz eng mit Italien verbunden.
Welche Sicherungsmechanismen wurden aus der Erfahrung mit der Finanzkrise eingebaut?
Den Banken wurde eine höhere Eigenkapitalquote vorgeschrieben. Fast 130 der wichtigsten Geldhäuser unterstehen jetzt der Aufsicht der EZB. Im Mai 2014 wurden mit der Europäischen Bankenunion nationale Kompetenzen auf zentrale Institutionen übertragen. Dazu beschloss man einheitliche, gemeinsame Richtlinien und Regelungen im Bereich der Finanzmarktaufsicht, zudem wurde ein Verfahren zur Sanierung oder Abwicklung von Kreditinstituten innerhalb der EU beziehungsweise der Eurozone eingeführt.
Sind die Banken heute stabiler? Oder gilt immer noch „too big to fail"?
Ja, stabiler sind sie, aber das Problem, dass einzelne Banken zu groß sind, zu systemrelevant, um sie zusammenbrechen zu lassen, existiert immer noch. Und wir werden auch wieder erleben, dass Banken gerettet werden müssen. Auch auf Kosten der Steuerzahler. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass es so schlimm wird wie 2007/2008.
Damals hat niemand die Krise vorhergesehen – wäre das heute wieder möglich?
Nein. Krisen sind per definitionem nicht vorhersehbar, sonst könnte man die schlimmsten Folgen frühzeitig vermeiden oder lösen. Jede Krise ist anders, und es ist extrem schwer, die Schwächen im Wirtschafts- und Finanzsystem so frühzeitig zu erkennen, dass die Politik gegensteuern kann. Und es hängt ja letzten Endes auch von den handelnden Personen ab, den Politikern. Und Menschen machen Fehler.
Inwieweit gefährdet die Währungskrise um die türkische Lira das Finanzsystem?
Da sehe ich wenige oder kaum Risiken auf die Euroländer zukommen. Die Türkei ist – obwohl das zynisch klingt – für das internationale Finanzsystem nicht „systemrelevant". Sicher, die spanischen und auch die deutschen Banken verlieren Geld, wenn die Wirtschaft in der Türkei einbricht. Aber für viel wichtiger halte ich die politischen Risiken. Die Türkei könnte ihre Haltung in der Flüchtlingspolitik aufgeben. Und mit möglicherweise steigenden Flüchtlingszahlen bei uns würde sich auch ein Konflikt darüber weiter zuspitzen.
Welchen Einfluss hat der Handelskonflikt zwischen den USA und China auf das Finanzsystem?
Wie wir gesehen haben, beeinflusst er die Aktienmärkte, kann also Firmen Verluste bringen. Weniger Exporte und höhere Zölle würden für Deutschland als Exportland eine konjunkturelle Schwächung bedeuten. Man kann nur hoffen, dass der Konflikt nicht eskaliert und US-Präsident Trump versteht, dass ein Handelskrieg nur Verlierer hat und auch die USA einen sehr hohen Preis zahlen werden.
Der französische Präsident Macron hat eine stärkere Zusammenarbeit in der Eurozone gefordert. Kann das die Euro-Staaten vor einer neuen Finanzkrise schützen?
Zum Teil ja – denn mehr Kooperation und gegenseitige Absicherung reduzieren das Risiko für alle, auch für Deutschland. Macron möchte mehr Zusammenarbeit, unbürokratische Hilfe in Krisensituationen und ein gemeinsames Budget der Eurozone. Wir Deutschen dagegen haben immer Angst, dass es unseren Nachbarn nur um unser Geld geht – dabei haben wir vergessen, dass Deutschland vor 15 Jahren selbst als der „kranke Mann Europas" galt und mit Unterstützung der anderen – sprich den guten Exportmöglichkeiten – wieder auf die Beine kam.
Welchen Rat geben Sie dem deutschen Wirtschaftsminister?
Deutschland hat ein großes Investitionsproblem und die Politik muss bessere Rahmenbedingungen setzen, damit Unternehmen wieder mehr in Deutschland investieren. Dann könnten Jobs mit besseren Einkommen entstehen und der Wirtschaftsstandort Deutschland würde langfristig gesichert. Vor allem muss mehr für Innovation getan werden, damit Deutschland seine starke Stellung im internationalen Wettbewerb bewahren kann. Und die Bundesregierung sollte sich stärker in Europa engagieren, um gemeinsame Lösungen für die wichtigsten Probleme unserer Zeit – von der Zuwanderung über Digitalisierung bis hin zur zunehmenden Globalisierung und Klimaschutz – zu finden.