Beobachtungen von Bewahrern deutscher Traditionen und Feiertagen im Einsatz
Menschen sind unterschiedlich. Gerade in größeren Städten stoßen Gegensätze aufeinander. Aber bei gutem Wetter gelingt an den Ufern der Badeseen meist eine friedliche Koexistenz. Jeder kann nach seiner Fasson glückselig werden – dachte ich bis zu dem Tag, als „meinen" Strand ungewöhnliche Gäste heimsuchten.
Gefühlt zwei Dutzend – in Wirklichkeit nur eine Handvoll gröhlender Männer um die 50 – mit zwei Kästen Bier und einem auf Maximal-Lautstärke aufgedrehtem Kofferradio. Aus welcher Kneipe hat man die wohl losgelassen? Hinterdrein trotten zwei unscheinbare Frauen. Die Männer dagegen sind kaum zu übersehen mit ihren abrasierten Haaren und den auf die Brust tätowierten altgermanischen Lettern. Aus dem Lautsprecher schallt: „Bist du auch einer von denen, die alles wissen?" Etwas später heißt es: „Drauf geschissen." Nicht ganz mein Musikgeschmack.
Ich checke mein Handy. Laut Wikipedia stammt der Song von den Hungrigen Wölfen. Dahinter steckt die Band Kategorie C aus Bremen, die der rechtsextremen Hooligan-Szene zugeschrieben wird, heißt es. Der Sänger sei ein verurteilter Straftäter, der an einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim beteiligt gewesen sei. Ich lese den Songtext weiter: „Bist du auch einer von denen, die alles sehn’, doch blind links in ihr Verderben gehen?" Ich hatte es geahnt: Für die Badegäste neben mir ist das Heil nur rechts zu finden.
Sie gehören einer aussterbenden Gattung an: Die schwergewichtigen Kerle, die sich ohne Rücksicht auf Verluste ins flache Wasser stürzen, sind noch echte Männer. Ihre Schmerzempfindlichkeit ist durch den Alkohol herabgesetzt. Der eine hat eine stark blutende Verletzung am Rücken. Seine schwarz gekleidete Freundin leckt buchstäblich seine Wunden. Ohne Unterlass treten die Männer zum Kräftemessen gegeneinander an. Die Schwarzgekleidete singt: „Ein richtiger Kerl steht auf." Der mit den meisten Tätowierungen springt hoch, reißt sich zum Beweis seiner Männlichkeit die Hose herunter und zeigt einem Freund seinen Allerwertesten. Der sagt nur trocken: „Iss jut!"
Klar, dass solche Zeitgenossen etwas gegen Ausländer und ihre fremdländischen Sitten haben. Vom Band singt die Stimme nun: „Steh auf, Mädchen, steh auf." Ins Badetuch gewickelt hält sich eine dicke Frau – die Bierflasche in der Hand – nur mit Mühe auf den Beinen. Der Hosenrunterzieher streichelt seinen dicken Bauch, während er mit einer jungen Frau im modischen Bikini schäkert, die sich anschickt, mit ihrem Freund ins Wasser zu gehen. Ob er zwischen sie und ihren Freund springen dürfe? „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist", sagt sie und schaut skeptisch. „Komm, ich bums gleich!", ruft der Schwerenöter in Richtung seiner Freunde. Die fallen im Chor ein: „Wir wollten raus. Peng. Ihr wolltet raus. Peng. Du wolltest rein. Peng." Das kurze Lied endet in einer allgemeinen Erheiterung. Wenn ich mir dabei etwas denke, habe ich dann eine schmutzige Fantasie?
Das Mädchen hat mit ihrem Freund das Weite gesucht. Ihr Verehrer am Ufer bleibt cool. Er wirft die Zigarettenkippe auf den Boden, versucht, sie barfuß auszutreten und verliert dabei fast das Gleichgewicht. Nun torkeln die Männer wieder über Stock und Stein ins kühle Nass. Ich sehe im Geiste schon die Feuerwehr kommen wegen Bein- oder Schädelbasisbruch. Doch sie fallen weich. Einer sogar in voller Montur. Ihm ist jedoch ein Malheur passiert. Er hat seine Bierflasche losgelassen und muss mitansehen, wie sie im trüben Wasser versinkt. „So haben wir nicht gewettet", schnauzt er. „Dich soll der Teufel holen", brüllt es aus dem Lautsprecher.
Aus dem Wasser schaffen sie es nur auf allen Vieren. Kinder beobachten mit großen Augen die vom Wasser aufs Land kriechenden Kreaturen. Es sind die Bewahrer deutscher Traditionen und Feiertage: Vatertag, Sommeranfang, Oktoberfest. Einen Grund zum Saufen gibt es immer. Vielleicht bekommen sie eines Tages sogar einen Platz im Heimatmuseum? Noch auf dem Nachhauseweg höre ich sie unisono singen: „Schon wieder diese Scheißmelodie." Ausnahmsweise bin ich mal ganz ihrer Meinung.