Eine Radtour durch den Süden Englands, von Dover zur Isle of Wight: Die grünen Hügel sind hier besonders lieblich, die Gärten und Kathedralen prächtig, die Städte die schönsten im ganzen Land.
Plump ist das E-Bike mit seinem schweren Rahmen, dem rückgebogenen Lenker und breiten Sattel, mit Rücktritt und Achtgang-Schaltung. Aber bald schon ist es wie Rosinante, Don Quichottes müder Gaul, treu und zuverlässig – ob auf Asphalt, Schotter oder steilen Dorfstraßen.
Besser noch: Man sitzt bequem, hat den Blick frei über die sanft geschwungene, üppig-grüne Parklandschaft und frei für Heckenwege, die sich durch die Felder schlängeln. Auf den Wiesen stehen Eichen, überall glänzt sumpfiges Grün um kleine Wasserläufe – hinter Baumgruppen blitzen verträumte Schlösschen und Landsitze hervor.
Start ist in Dover, Fährhafen bei den weißen Klippen und es nieselt. Über der Stadt thront die mittelalterliche Burganlage, neben dem Tower von London eine der größten und best erhaltenen Europas. In den mit altem Mobiliar, glänzenden Fahnen und bunten Wandbehängen geschmückten Burgsälen erfahren wir, dass Sachsen und Römer die Anlage bauten, Wilhelm der Eroberer sie im 11. Jahrhundert ausbaute und mit doppelten Ringmauern uneinnehmbar machte.
Die Fahrt abwärts verlangt volle Konzentration – noch ungewohnt ist der Linksverkehr! Bald schon zeigt sich die Grafschaft Kent von ihrer ländlichen Seite: Hinter Weißdorn und Fuchsien liegen weißgetünchte Häuser mit blauen Türen, auch himbeerfarben, mit Clematis-Sternen um die Fenster. Die Küste radeln wir direkt am Wasser entlang nach Sandwich – über uns Möwengeschrei. Picknick im Grünen, dann durchstarten nach Canterbury. Wind und Wetter haben auch ihr Gutes: Sie zwingen uns in den schönsten Pub der Gegend, den „Red Lion", auf ein „Cornish Coaster"-Ale. Im Duft der Wiesen geht es vorbei an Cottages, Dorfkirchen, Schafherden und hohen Büschen. Die ersten 50 Kilometer sind geschafft. Die Pilger im 13. Jahrhundert machten das zu Fuß! Keiner verzichtet später auf das typisch englische Dessert „Eton Mess", eine Baiser-Sahne-Früchte-Bombe.
Vorbei an Cottages und Schafherden
Canterbury ist ein Paukenschlag. Die Kathedrale, Weltkulturerbe, ist neben Westminster Abbey in London der schönste Sakralbau Englands. Hier verbinden sich steil aufragende Gotik und Romanik. Die Glasfenster wollen bewundert werden, die Wandgemälde, die Krypta. Hier erschütterte ein Mord ganz England: In dieser seiner Kirche starb 1170 Erzbischof Thomas Becket durch ein feiges Attentat auf Befehl Heinrichs II.
Die Sonne scheint auf dem Weg ins blühende Paradies. Sissinghurst, legendärer Garten der Schriftstellerin Vita Sackville-West (1892-1962), ist anders als der englische Landschaftspark, der 150 Jahre zuvor Europa eroberte. Um die Reste eines morbid-pittoresken Schlosses schuf sie eine Gartenanlage, für manche die schönste im Lande. In romantischer Manier nennt sie die Gartenaufteilung ihr „weißes Zimmer, lila Zimmer, Rosenzimmer". In fein abgestuften Nuancen bezaubern die Farben, Formen und Gruppen. Der „weiße Garten" inspiriert noch heute Gartenfreunde aus aller Welt.
Ein Bus fährt die Radler in gut drei Stunden nach Oxford. In der berühmten Universitätsstadt gibt die akademische Welt seit 800 Jahren den Ton an. Allein 46 Nobelpreisträger und 25 Premierminister hat sie hervorgebracht.
Die 49 Colleges liegen in der Altstadt: Wunderschön sind die Innenhöfe mit bunten Blumenrabatten. Viele Besucher kommen wegen den Harry-Potter-Drehorten. Wir wollen aber ins altehrwürdige Christ Church College. Den besten Blick auf das gotische Bauwerk hat man vom Carfax Tower. An diesem herrlichen Tag sind viele Leute unterwegs. Sie stöbern im größten Buchladen der Welt, dem „Blackwell’s", bevölkern die Straßencafés vor den honiggelben Limestone-Fassaden, trinken ihr Ale im „The King‘s Arms" oder im „Tavern"-Pub gegenüber dem Sheldonian Theater.
Dann wieder im Sattel. Es geht durch eine stille Landschaft, den 200 Jahre alten Kennet-and-Avon-Channel entlang, einst Versorgungslinie für London. Hausboote, die „Narrowboats", locken zu einem Ausflug. Aber auf 36 Kilometern 29 Schleusen passieren? Nein danke. Englischer Landregen setzt ein. Von Meile zu Meile tritt es sich schwerer auf dem aufgeweichten Treidelpfad nach Bath. Zum Baden fährt heute niemand mehr nach Bath. Die Römer kurten dort Jahrhunderte lang; in ihren Romanen schilderte Jane Austin das mondäne Badeleben im 19. Jahrhundert. Heute kommen die Menschen, weil Bath – seit 1987 Weltkulturerbe – als Kunstwerk und die schönste Stadt Englands gehandelt wird. Daniel Defoe, Autor von „Robinson Crusoe", beschreibt sie als einen Ort, „der den Tagedieben hilft, die schlimmste Art des Mordes zu begehen, nämlich die Zeit totzuschlagen". In den Parks zum Beispiel, in den Cafés am Kingsmead Square, beim Shopping in der exquisiten Union Street oder unter den Lüstern des Kurhauses bei Tee, warmen Scones, Erdbeermarmelade und Sahne. In royaler Perfektion glänzen die Häuserreihen von „The Crescent" und „The Circus", den ersten Rundplätzen Großbritanniens. Wie praktisch: Unser Hotel liegt mittendrin. Salisbury in der Grafschaft Wiltshire ist das nächste Ziel. Hier jagt ein Superlativ den nächsten. 123 Meter hoch ist der Turm der Kathedrale, die Bauweise einheitlich frühgotisch, im Kapitelhaus der Schatz: ein Exemplar der Magna Charta, das Dokument zum Beginn der Demokratie.
So schön wie ein Gemälde
Und Stonehenge? 5.000 Jahre alt, rätselhaft bis heute – unglaublich. War es ein religiöser Kultplatz, steinzeitliche Sternwarte, eine keltische „Kathedrale"?
Wir treten in die Pedale. Stourhead steht auf dem Plan, der englische Landschaftspark schlechthin. Im engen Tal des Stour schuf der Aristokrat Henry Hoare Mitte des 18. Jahrhunderts aus „wilder Natur" ein Kunstwerk „aus Wegen, Wäldern, Wiesen, Seen und Flüssen". Der Rundgang ist eine Offenbarung. Hinter jeder Biegung neue Ausblicke auf Brücken, Wasser, Grotten, Tempel, allegorische Skulpturen. Noch radeln wir entspannt den Avon entlang. Doch die Anstiege werden zäh im New Forest National Park, einem der letzten großen Waldgebiete Englands, über Jahrhunderte Jagdrevier der Könige. Das Hochplateau zeigt sich so schön wie ein Gemälde. Buchen und Eichen, uralt und majestätisch, auf den Lichtungen leuchtend grüne Farne, hohe Rhododendren, Teppiche aus lilarotem Heidekraut –
mittendrin weiße und schwarze Wildpferde. Am Ende des New Forests liegt der kleine Ort Lyndhurst mit Fachwerkhäusern und blumenumrankten Cottages, wie in den Romanen von Rosamunde Pilcher. Im Hafen von Lymington erreichen wir die Fähre zur Isle of Wight. Wir nehmen Abschied von Gartenbaukunst und gotischen Kathedralen, auch von den Fahrrädern – im Blick den Leuchtturm und die weißen Kreidefelsen.