Mit den aktuellen Herausforderungen im Pflegebereich umzugehen, ist das eine. Das andere ist, sich frühzeitig mit künftigen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Grundlagen liefert der Zukunftsbeirat mit Hajo Hoffmann an der Spitze.
Mit Visionen ist das bekanntlich so eine Sache. Der vielzitierte Satz von Helmut Schmitt ist legendär. Die lästerliche Schmähung des Altkanzlers zielte dabei wohl eher auf utopische Spinnereien. Einem weitsichtigen Vorausdenken hätte er wohl kaum eine Absage erteilt.
Genau um dieses grundlegende Vorausdenken geht es im Zukunftsbeirat der Victor’s Unternehmensgruppe. Die aktuellen Herausforderungen sind Tagesgeschäft. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage nach Entwicklungen der nächsten fünf, vielleicht zehn Jahre. Eine Reihe von Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Pflege dafür sind hinlänglich bekannt, etwa die demografische Entwicklung. Die lässt sich vereinfacht in der Formel zusammenfassen: Die Menschen in Deutschland werden im Schnitt älter, bleiben länger fit, bedürfen aber in hohem Alter zunehmend intensiverer Betreuung, Pflege und medizinischer Versorgung. Gleichzeitig erschließen aber auch Forschung sowie technische und medizinische Fortschritte neue Perspektiven.
Hajo Hoffmann beschreibt als Vorsitzender die Aufgabe des Zukunftsbeirats höchst anspruchsvoll: Es geht um nicht weniger, als „die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse alltagstauglich zu machen" und damit bereits die Grundlagen für künftige Entwicklungen zu schaffen. Das betrifft im Grunde alle Bereiche, wobei naturgemäß Erkenntnisse humanwissenschaftlicher Forschung zwar im Mittelpunkt stehen, gleichzeitig aber auch die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt entscheidenden Raum einnehmen. Im Hintergrund steht immer das Bestreben einer permanenten qualitativen Verbesserung der Angebote, aber auch der Qualifikationen der Beschäftigten. „Ich glaube nicht, dass das spontan und sofort passiert, das ist ein Prozess der Bewusstseinsbildung, bis es in die praktische Arbeit mit eingeht", beschreibt er diesen Prozess.
Wie das läuft, zeigt das Beispiel Demenz. Früher sei das Thema eher „eine Randbetrachtung" gewesen. Heute weiß man um die Zyklen der Abläufe, kann entsprechend die Angehörigen miteinbeziehen. Wenn Demenzerkrankte beginnen, merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag zu legen, etwa mit absurden Behauptungen, neigt man üblicherweise dazu, dem zu widersprechen, was wiederum die Kranken böse macht, weil sie sich unverstanden fühlen. Wenn man aber aufgrund der Forschung um die typische Entwicklung des Krankheitsbildes weiß, wird man statt Widerspruch eher Beruhigung versuchen. Das Beispiel leuchtet schnell ein, aber „Wissenschaft ist oft abgehoben und nicht ohne weiteres in die Praxis umzusetzen", stellt Hoffmann fest. Deshalb müsse man die Ergebnisse kritisch prüfen. Das einzuüben ist einer der Punkte, die der Zukunftsbeirat anstoßen und begleiten will.
„Wir können Fehlerquellen reduzieren"
Nicht jede Entwicklung ist aber so einleuchtend wie das Demenz-Beispiel, und vor allem empfiehlt sich nicht bei allem eine schnelle und eher unkritische Übernahme in die Praxis. So ist für Hoffmann unstrittig, „dass wir in vielfältiger Weise eine Technikunterstützung bekommen, die uns helfen kann", um gleich warnend hinzuzufügen: „Technische Unterstützung darf nicht heißen, dass sie menschliche Zuwendung ersetzt. Das kann sie auch gar nicht. Sie muss dienenden Charakter haben".
Ein Beispiel, wo insbesondere die digitalen Möglichkeiten ganz praktische Vorteile bringen können, sei etwa die „Krankenakte". Grundsätzlich gelte das für alle Patienten, aber eben besonders für ältere Menschen mit multiplen, also gleichzeitig unterschiedlichen Krankheitsbildern. Jeder Spezialist bemühe sich dann um sein Fachgebiet, eine Zusammenführung finde aber eher selten statt. Mit Künstlicher Intelligenz (KI) ließen sich verschiedenste Untersuchungsergebnisse, Befunde oder Medikamente in einer einheitlichen „Akte" auf Widersprüche oder zusammenhängende Hinweise abgleichen. Was heute schon möglich ist, wird „in Zukunft Standard", ist Hoffmann überzeugt. Der Vorteil: „Wir können Fehlerquellen reduzieren. Ganz ausschließen können wir sie nicht."
Ähnlich hilfreich sieht er die technische Möglichkeit zur Fernüberprüfung bei kritischen gesundheitlichen Verfassungen, die aber in der Regel nur zeitlich begrenzt auftreten. Die Mensch können ansonsten ein ziemlich freies Leben führen. Das gilt etwa für Probleme mit Herz oder Kreislauf, Diabetes oder Depressionen. „Wenn ich die Risiken technisch durch Sensoren überprüfen kann, dann kann dieser Mensch einen Freiheitsgrad zurückgewinnen, von dem er schon lange geträumt hat." Natürlich weiß Hoffmann um die kritischen Einwände solcher „Überwachungen" und stellt deshalb gleich klar: „Das kann nur mit Einverständnis des Patienten gemacht werden. Aber er soll die Wahlmöglichkeit haben."
Solche technischen Hilfsmöglichkeiten würden nachvollziehbar auch die Betreuung von Bewohnern von Senioreneinrichtungen deutlich erleichtern und verbessern. Wenn direkt aus ihrem Appartment entsprechende Signale gemeldet werden, wäre Hilfe nicht nur schneller, sondern auch zielgenauer möglich, „sozusagen just in time". Und weiter gedacht könnten sich diese Einrichtungen zu Kompetenzzentren entwickeln, die diese Services, die Dienstleistungen aber auch die damit verbundene Sicherheit Menschen anbieten könnten, die in der Umgebung der stationären Einrichtungen zu Hause leben. Und natürlich würde auch da gelten, nur die Dienstleistungen umzusetzen, die die Menschen auch für sich ausdrücklich in Anspruch nehmen wollen, beugt Hoffmann der Gefahr einer kompletten Überwachung auch im privaten zu Hause vor. Das wäre im Übrigen auch eine Möglichkeit für den ländlichen Raum, um auch dort, wo die Strukturen ausgedünnt sind, eine gewisse Sicherheit anzubieten.
Für Hoffmann wären solche Kompetenzzentren in Verbindung mit Krankenhaus und Altenpflege durchaus ein Modell, das für die Versorgung ländlicher Regionen denkbar wäre, wenn man die Diskussion über die Zukunft der Landarztpraxen und des Ärztenachwuchses im Blick hat.
Neben der digitalen Welt liefert auch die Biologie mit ihren rasanten Fortschritten bei der Genforschung teils völlig neue Möglichkeiten.
„Es gibt Dinge, die sehr schnell anwendungsfähig wären, gegen die es aber große Bedenken gibt, beispielsweise die ‚Genschere‘". Das ist eine Eingriffsmöglichkeit, mit der beispielsweise genetischen Schäden und Erbkrankheiten bekämpft werden können. Noch nicht abschließend geklärt sind aber etwaige Folgewirkungen auf andere biologische Funktionen. Und schon gar nicht geklärt sind die ethischen Fragen zwischen der Möglichkeit zu heilen und dem Szenario, Menschen nach bestimmten Kriterien zu züchten. „Das halte ich für eine ganz kritische Angelegenheit", warnt Hoffmann, auch weil er um die alte Erkenntnis weiß, dass alles, was technisch möglich ist, auch gemacht wird. Die Frage ist nur: Wie? „Es wäre geradezu zynisch, wenn ich Menschen nicht helfen würde, obwohl ich es könnte", aber es ist dann eben auch möglich, zu „manipulieren auf Teufel komm raus", beschreibt er das klassische Dilemma technologischer Fortschritte.
„Richtig verstehen, worum es geht"
Nun sind Fragen des Technologietransfers zwar wesentliche, aber bei Weitem nicht die einzigen des Zukunftsbeirats. „Wir beschäftigen uns mit der Architektur für ältere Menschen, mit sozialen Kommunikationsfragestellungen oder mit Therapieformen", erläutert Hoffmann. Dass im weiten Feld dessen, was als „Therapieangebote" auf dem Markt ist, die Grenze zwischen seriöser Anwendung und ein bisschen Hokuspokus sehr dünn sein kann, ist kein Geheimnis. Wie schwierig das ist, zeigt Hoffmann am plastischen Beispiel. „Durch Handauflegen und einigem Drumherum kann man die Illusion erzeugen, dass man hilft. Man kann aber auch tatsächlich helfen, Stichwort Hautkontakt." Ältere Menschen hätten in Sachen freundlicher Körperkontakte oft naturgemäß Entzugserscheinungen. Deshalb könne das Teil einer Therapie sein. „Ich muss aber auch verstehen, worum es geht. Hokuspokus hilft da nicht." Womit er wieder bei seinem Credo ist, wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis zu nutzen.
Das geht hin bis zum richtigen Einsatz von Licht in den Einrichtungen. Licht mit hohem Blau-Anteil (den das Auge nicht sieht) ist für den Körper Signal für Aktivität. LEDs haben beispielsweise einen hohen Anteil an Blaulicht. Die dann abends einzusetzen, wäre auf der Basis dieser Erkenntnis höhst unklug und widersinnig. Allerdings ist sich Hoffmann durchaus auch bewusst, dass bei dem rasanten Erkenntnisfortschritt immer das Risiko mitschwingt, dass weitere Forschungen möglicherweise etwas ganz anderes zu Tage fördern.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel liefert der Ernährungssektor.
Ein überwiegender Teil der Forschung dazu sei von der Industrie finanziert. Das schließe sinnvolle Erkenntnisse nicht aus, aber es sei nun mal auch nicht auszuschließen, dass Ergebnisse, die womöglich nicht so günstig sind, unter den Tisch fallen. Deshalb hielte er eine neutralere Forschung für sinnvoll, die sich mit tiefergehenden Fragen der Wirkung von Ernährung beschäftigt, „denn ich bin sicher, dass die Küchen in stationären Einrichtungen weitere Qualifikationen brauchen, welche Nahrungszubereitung für bestimmte Altersgruppen und bestimmte Krankheitssymptome sinnvoll sind". Was im Übrigen nicht nur für ältere Menschen gelte.
Um solche Grundsatzüberlegungen systematisch in die Praxis einzubringen, sind Besuche, Vorträge und Gespräche in den Häusern ein Teil. Zentrales Anliegen ist aber auch, dies in die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfließen zu lassen. „Qualifikation ist ein Megathema", unterstreicht Hoffmann und sieht die Funktion des Zukunftsbeirats auch darin, diese grundlegenden Themen in der Weiterbildung und dann auch immer mehr in der Ausbildung zu verankern. Denn: „Wenn man im Wettbewerb bestehen will, muss man auf diese Qualifikationsbereiche setzen."
„Qualifikation ist ein Megathema"
So sehr Hoffmann dafür wirbt, sich neue technische Möglichkeiten nach kritischer Würdigung zunutze zu machen, besteht er darauf: „Bei aller Faszination, die Wissenschaft und Technik ausstrahlen, darf sie nie dazu führen, dass menschliche Kommunikation zurückgefahren wird." Deshalb müsse in der Ausbildung und in der Auffassung von Dienstleistung in den stationären Einrichtungen „das A und O sein, dass es um eine Zuwendung geht", natürlich gestützt auf Wissen. „Liebenswerte Menschen, die keine Ahnung haben, können bestimmte Hilfe leisten, können aber eine solche Systematik nicht tragen. Und umgekehrt: Wenn ich Leute mit Super-Fachausbildung habe, die aber keine Emotionalität mitbringen, ist das auch ein Problem." Die Herausforderung für diesen Beruf sei, „dass man menschliche Zuwendung täglich lebt, gekoppelt mit Sachverstand". Nach seinen Beobachtungen ist in jüngster Zeit, was die gesellschaftliche Anerkennung des Pflegeberufs vor dem Hintergrund dieser hohen Ansprüche betrifft, „etwas in Bewegung gekommen".
Und das passt auch zu Hoffmanns Verständnis von der Arbeit des Zukunftsbeirats, dem es nicht darum geht, „etwas Utopisches zu machen, oder Wünschenswertes, was noch lange nicht in Sicht ist", sondern sich ebenso schlicht wie anspruchsvoll mit den Dingen auseinanderzusetzen, „die innerhalb der nächsten fünf Jahre relevant sind".