Kaum ein Tag vergeht, an dem in den Nachrichten nicht über neue Ansichten zum Thema Pflegenotstand gesprochen wird. Der Arbeitgeberverband Pflege ergreift die Initiative: So will er ausländische Pfleger anwerben und eigene Kräfte weiterqualifizieren. Der Paritätische Gesamtverband mahnt parallel ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept bei der Bundesregierung an.
Alle diskutieren über Pflege. Und je nach Standpunkt sind an der Misere die geringe Bezahlung der Mitarbeiter, ihre fehlende Motivation, die hohe Arbeitsbelastung oder der Mangel an Fachpersonal schuld. Jetzt hat der Arbeitgeberverband Pflege getagt und seine Sicht der Dinge dargelegt. „Wir wollen ein falsches Bild zurechtrücken, das in der Öffentlichkeit herrscht. Demnach will niemand in der Altenpflege arbeiten, die Leute verweilen nur kurz im Beruf und werden schlecht bezahlt", sagte der Präsident des Verbandes, Thomas Greiner. So stimme das alles nicht. Der Arbeitgeberverband Pflege vertritt die privaten Unternehmen. Seine Mitgliedsunternehmen beschäftigen rund 40.000 Menschen.
Tatsächlich konnte Friedhelm Fiedler, Vizepräsident des Verbandes und Mitglied der Geschäftsleitung der Saarbrücker Unternehmensgruppe Pro Seniore/Victor‘s, recht ansehnliche Zahlen präsentieren. So hätten etwa zum Start des Ausbildungsjahres 2016/2017 insgesamt 24.130 Azubis eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft begonnen. „Das ist ein Rekord, nur zehn Ausbildungsberufe in Deutschland können so gute Zahlen vorweisen." Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Altenpflege entwickelt sich positiv, laut Bundesagentur für Arbeit hat es von 2013 bis 2017 eine Steigerung um 21 Prozent gegeben – 96.000 Menschen mehr, die in dem Berufsfeld arbeiten. Insgesamt sind laut Statistik stolze 571.000 Personen in dieser Branche beschäftigt, viele von ihnen allerdings in Teilzeit.
Fiedler betonte, dass Auszubildende und Beschäftigte in der Branche gut bezahlt würden. Im Schnitt erhalte ein Azubi schon im ersten Lehrjahr 1.090 Euro und im dritten 1.253 Euro. In seinem Unternehmen orientiere man sich an diesen Zahlen – „ohne Tarifvertrag, einfach weil es gut angelegtes Geld ist und wir wettbewerbsfähig sein wollen." Nach der Ausbildung seien Verdienstmöglichkeiten in der Altenpflege durchaus konkurrenzfähig. Verglichen etwa mit Bankkaufleuten oder Mechatronikern würden Altenpfleger unter Einrechnung aller Zuschläge sogar besser verdienen.
„Die niedrigsten Pflege-Gehälter liegen deutlich über dem Mindestlohn"
Auch die Abbrecherquoten sind laut Fiedler lange nicht so dramatisch wie in der Öffentlichkeit dargestellt. Zwar unterschätze mancher, wie anspruchsvoll der Beruf ist. Aber erst im Juli habe eine Studie in Hamburg für das Ausbildungsjahr 2016/2017 eine Abbrecherquote in der Altenpflege von lediglich 13,5 Prozent belegt. „Angesichts einer durchschnittlichen Abbrecherquote von rund 25 Prozent bei allen Ausbildungsberufen ist das ein sehr erfreulicher Wert." Nur im ländlichen Raum sei die Zahl etwas höher. Und dennoch: Fiedler musste einräumen, dass das alles noch längst nicht reicht. Mitgliedsunternehmen suchten zum Teil händeringend Personal, das auf dem Arbeitsmarkt derzeit nicht zu finden sei.
Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Altenpflege, stellte einige Pilotprojekte des Verbandes zur Personalgewinnung vor. Innerhalb eines vom Bundesgesundheits- und Bundesarbeitsministerium koordinierten Projektes sollen 15.000 ausländische Pflegefachkräfte – gute deutsche Sprachkenntnisse vorausgesetzt – nach Deutschland geholt werden. Weitere Projekte zielen auf eine Weiterqualifizierung von Pflegehilfskräften zu Pflegefachkräften und auf eine optimierte Nutzung vorhandener Personalressourcen. Vizepräsident Fiedler begrüßte die Einsicht der Bundesregierung, dass Deutschland ein Zuwanderungsgesetz braucht. Entscheidend sei dabei aus Sicht seines Verbandes, dass eine zentrale Anerkennungsstelle für Pflegeberufe geschaffen wird. Außerdem brauche es klare und schnelle Visaregelungen: „Heute herrscht da ein totales Tohuwabohu, das mit seiner üblen Intransparenz der Willkür Tür und Tor öffnet." Nicht zuletzt wünscht sich Fiedler so wenig Mitsprache der 16 Bundesländer via Bundesrat wie möglich: „Föderalismus ist schön und gut. Aber viele Köche verderben auch leicht den Brei."
Doch während im Koalitionsvertrag steht, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen sollen, lehnt das der Arbeitgeberverband Pflege vehement ab: „Wir sind absolute Verfechter der Tarifautonomie und halten nichts davon, diese auszuhebeln", so Fiedler. „Einer Diskussion um höhere Einkommen für Pflegekräfte verweigern wir uns nicht. Flächendeckende Tarifverträge wollen wir aber nicht." Er schlägt einen anderen Weg vor, mit dem eine Absicherung nach unten gewährleistet und Minder- und Schlechtbezahlungen abgebaut werden sollen: Vor einiger Zeit habe man an der Gründung der Pflege-Mindestlohn-Kommission mitgewirkt. „Das ist eine segensreiche Errungenschaft, die erreicht hat, dass die niedrigsten Gehälter in der Altenpflege immer noch deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen." Eine neu einzuberufende Pflege-Mindestlohn-Kommission in erweiterter Besetzung – mit dem DRK, dem Paritätischen, den Kirchen, den kommunalen Arbeitgebern und der Gewerkschaft Verdi – könnte eine rote Linie einziehen, unterhalb derer in Deutschland nicht bezahlt werden darf.
Derweil hat das Bundesgesundheitsministerium darauf hingewiesen, dass die 13.000 neuen Stellen, die nach dem Sofortprogramm der Bundesregierung in der stationären Altenpflege geschaffen werden, von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden sollen – ohne Beteiligung der Pflegebedürftigen. Um Pflegekräfte zu entlasten, werde außerdem die Digitalisierung gefördert. Die ambulante Alten- und Krankenpflege im ländlichen Raum soll durch eine bessere Honorierung der Wegezeiten gestärkt werden. Das Gesetz soll zum 1. Januar 2019 in Kraft treten.
Für den Paritätischen Gesamtverband reichen die geplanten Maßnahmen der Bundesregierung nicht aus, den Pflegenotstand wirksam zu beheben. Vor allem sei kein Gesamtkonzept erkennbar, mit dem die Versorgungs- und die Betreuungssituation von Pflegebedürftigen nachhaltig verbessert werde. „Ein stimmiger Plan muss aufgestellt werden, mit dem mittelfristig 100.000 zusätzliche Pflegekräfte gewonnen werden können", kritisieren Thomas Mittag, Referent für Altenhilfe und Pflege des Verbandes, und der ehrenamtliche Vorsitzende, Prof. Dr. Rolf Rosenbrock. „Der Pflegenotstand weitet sich aus." Derzeit seien 17.000 Stellen in Pflegeheimen und 21.000 Stellen in ambulanten Pflegediensten unbesetzt. Die Arbeitsbelastung steige weiter an, die Arbeitsverdichtung und der Druck in allen Bereichen hätten seit 2015 zugenommen. „Es muss eine Abkehr von der Durch-Ökonomisierung der Pflege und eine Entzerrung der Arbeitsverdichtung geben. Für Pflege, Betreuung und Gespräche muss wieder mehr Zeit vorhanden sein." Auch die Anwerbung von Pflegekräften aus Drittstaaten befürwortet der Paritätische sofern ethische Grundwerte eingehalten werden. Für den Verband ist eine Neuordnung der Pflegefinanzierung das A und O: „Die Finanzierungsgrundlagen zu reformieren und die Eigenanteile zu begrenzen, muss zwangsläufig Teil eines Konzepts sein", schreiben Rosenbrock und Mittag. Der Ausbau der Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung sei unumgänglich. Der Paritätische will erreichen, dass die Pflegeversicherung grundsätzlich 85 Prozent der Kosten für ambulante und stationäre Pflege übernimmt. „Wenn die Fragen der Finanzierung der Pflege nicht neu gedacht und mutig vorangebracht werden, kommen wir aus der Lethargie des Stückwerks nicht heraus."