Seit der Deutsche Ärztetag das Fernbehandlungsverbot gekippt hat, können Patienten per Webcam mit ihrem Arzt kommunizieren. Während bundesweit eher Zurückhaltung herrscht, prescht Baden-Württemberg mit einem Modellprojekt vor. Doch es gibt viele Bedenken gegenüber der Telemedizin – bis hin zur Frage, ob die „Online-Sprechstunde" überhaupt legal ist.
Das Stethoskop liegt noch auf dem Schreibtisch, doch in der Praxis von Rita Bangert-Semb spielen längst andere Geräte die entscheidende Rolle. Die 56-jährige Hausärztin aus dem nordbadischen Walldorf berät Patienten nicht nur persönlich, sondern auch per Smartphone und Laptop. Auf ihrem Bildschirm sieht sie, wer sich gerade im „virtuellen Wartezimmer" befindet. Klickt sie darauf, wird der Kontakt hergestellt, entweder per Webcam oder per Chat. So kann sie mit Menschen reden, die viele Kilometer entfernt wohnen – Patienten, deren eigener Hausarzt gerade keine Sprechstunde hat. Rita Bangert-Semb ist begeistert. „Das ist der Einstieg in eine neue Dimension der Behandlung", glaubt die Hausärztin.
Mit ihrem Hang zur Technik ist Rita Bangert-Semb nicht allein. Genau 40 solcher „Teleärzte" gibt es derzeit im Südwesten. Sie sind Teil des Modellprojekts „DocDirect", das die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) ins Leben gerufen hat. „DocDirect" soll im großen Stil testen, was der Deutsche Ärztetag im Mai beschlossen hat: die Lockerung des Fernbehandlungsverbots. Waren Online-Sprechstunden in Deutschland bislang strikt untersagt, sind diese unter bestimmten Voraussetzungen künftig möglich. Befürworter der neuen Regelung versprechen sich davon gleich zwei Effekte: Zum einen sollen überlaufene Notfallpraxen entlastet werden. Zum anderen sollen Patienten, vor allem auf dem Land, schneller medizinischen Rat erhalten.
Konkret funktioniert „DocDirect" so: Patienten, die ihren eigenen Hausarzt nicht erreichen oder schlicht keinen haben, können werktags von 9 bis 19 Uhr über die „DocDirect"-App oder eine Hotline (0711-96589700) den Kontakt zur KVBW aufnehmen. Dort vermitteln medizinische Fachangestellte die Patienten an einen der 40 Teleärzte. Noch ist der Kreis der Berechtigten allerdings stark eingeschränkt: Teilnehmen dürfen nur gesetzlich Versicherte aus dem Stadtgebiet Stuttgart und dem Landkreis Tuttlingen. Durch die Begrenzung soll die Auswertung des Versuchs hinterher leichter fallen.
Viele Senioren nutzen das Angebot
Bevor das Projekt losging, rechnete Rita Bangert-Semb vor allem mit jungen Patienten. „Tatsächlich sind aber auch viele ältere Menschen sehr aufgeschlossen", erzählt die Hausärztin. „Die meisten haben kein Problem damit, Amazon, Netflix oder Online-Banking zu nutzen – oder eben eine App, die ihnen im medizinischen Bereich hilft." Im Alltag hat sich aber herauskristallisiert, dass die meisten eben doch nicht per Webcam kommunizieren wollen oder können. Viele nutzen die Chat-Funktion, um mit Bangert-Semb in Kontakt zu treten. Oder die Ärztin greift ganz klassisch zum Telefon, um Patienten zurückzurufen, die im „virtuellen Wartezimmer" sitzen.
Wofür man das alles braucht? Rita Bangert-Semb gibt ein Beispiel: „Es ist Freitagabend und Sie merken, dass Sie eine Blasenentzündung bekommen. Wenn Sie zum ärztlichen Bereitschaftsdienst gehen, warten Sie Stunden. Was also machen Sie?" Die naheliegende Lösung: Telemedizin. In der Schweiz und anderen europäischen Ländern ist die Online-Sprechstunde schon seit Jahren möglich. Auch große Konzerne mischen in dem Geschäft mit. Rita Bangert-Semb bevorzugt hingegen die baden-württembergische Lösung: „Ein solches System sollte immer in den Händen der Ärzte bleiben – mit Patientendaten, die von uns verwaltet werden und in einer eigenen Cloud geschützt sind. Ich will nicht den ‚Uber‘ des Gesundheitssystems."
Die Software, die bei dem hiesigen Modellprojekt zum Einsatz kommt, stammt von dem Münchner Unternehmen Teleclinic. Die Firma bietet bereits seit einiger Zeit ärztliche Konsultationen für Privatpatienten gegen Gebühr an. Sie arbeitet nach eigenen Angaben mit mehreren Krankenversicherungen zusammen. „Die Bedienung der Software ist etwas ungewohnt", meint Rita Bangert-Semb. „Ich würde sie mir noch konsumerorientierter wünschen, so wie wir es von Amazon und anderen Diensten gewohnt sind." Auch in anderen Bereichen sind der Fernbehandlung Grenzen gesetzt: Anders als in der Schweiz dürfen Teleärzte in Deutschland keine Krankmeldungen ausstellen. Auch Rezepte werden derzeit noch händisch ausgestellt, was sich aber demnächst ändern soll.
Auf der anderen Seite gibt es viele Kritiker, die eine große Gefahr in der Telemedizin sehen – etwa, weil digitale Patientenakten in die Hände von Unbefugten gelangen könnten. Von medizinisch-ethischen Fragen ganz zu schweigen: Reichen eine Webcam und ein Chatprogramm wirklich aus, um eine Diagnose zu stellen? Der Berufsverband „Freie Ärzteschaft" warnt davor, dass Fernbehandlungen immer mit Einschränkungen verbunden seien: „Körperliche Untersuchungen wie Lunge abhören oder Bauch abtasten sind nicht möglich, ebenso wenig wie Blut abnehmen und technische Untersuchungen", sagt der Verbandsvorsitzende Wieland Dietrich. Trotz aller Technik werde der Kontakt zwischen Arzt und Patient eingeschränkt.
Bei der Kassenärztlichen Vereinigung sind solche Bedenken bekannt. „Bei einem echten Notfall leiten wir die Patienten direkt an den Notruf weiter", versichert KVBW-Sprecherin Swantje Middeldorf. Deshalb laufe der Erstkontakt schließlich über geschulte medizinische Fachangestellte. „Wenn jemand Schmerzen in der Brust hat, ist das kein Fall für die Telemedizin."
Einen anderen Weg beschreitet die Uniklinik Freiburg. Dort widmet man sich mithilfe der Telemedizin explizit den akuten Notfällen: Ein Team aus Neurologen hält einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst aufrecht, um Krankenhäuser in Baden-Württemberg im Umgang mit Schlaganfallpatienten zu beraten. Das Angebot richtet sich vor allem an weniger stark spezialisierte Kliniken, die für die Online-Beratung eine Flatrate bezahlen. Wird ein Patient in eines der teilnehmenden Krankenhäuser eingeliefert, können die Freiburger Neurologen die Behandlung live an ihren Bildschirmen verfolgen und von der Ferne aus assistieren.
„Wir achten zum Beispiel darauf, ob ein Patient den Kopf in eine bestimmte Richtung drehen oder die Arme heben kann", erklärt Cornelius Weiller, Direktor der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie an der Uniklinik Freiburg. Auch EKG-Werte, Laborbefunde und Computer-Tomografien können die Freiburger Mediziner an ihren Rechnern verfolgen. „So sehen wir etwa, ob ein Blutgefäß verschlossen ist", erklärt Weiller. Die nächsten Schritte würden dann mit den behandelnden Ärzten abgestimmt. „Dadurch ermöglichen wir eine gute flächendeckende Versorgung", sagt Weiller. „Außerdem werden unsere Kollegen auf diese Weise fortgebildet."
Momentan nutzen elf Kliniken in Baden-Württemberg den Service, zum Beispiel in Emmendingen, Schorndorf, Göppingen, Freudenstadt oder Titisee-Neustadt. Insgesamt 4.275 Mal wurden die Freiburger Neurologen im vergangenen Jahr für solche patientenbezogenen Beratungen (sogenannte Konsile) herangezogen. „Technisch klappt das gut", sagt Weiller, allerdings gebe es auch Grenzen. Live operieren über einen ferngesteuerten Roboter würde er nicht, sagt der Neurologe. „Das haben wir vor einigen Jahren schon ausprobiert", so Weiller. Ein „Riesenaufwand" sei das gewesen, allein schon, um eine absolut sichere Internetverbindung herzustellen. „Das ist sogar teurer, als einen Operateur einfliegen zu lassen", resümiert Weiller.
Hohe Hürden wegen Datenschutz
Am Ortenau-Klinikum ist der Trend zur Telemedizin bislang nicht angekommen. Noch spiele das Thema keine entscheidende Rolle, erklärt Kliniksprecher Christian Eggersglüß. Ganz anders bei Diethard Rüger. Der 34-jährige Tierarzt aus St. Blasien bietet seit dem vergangenen Jahr eine Videosprechstunde an. „Vor allem im ländlichen Raum kann das sinnvoll sein", glaubt Rüger, denn viele Tiere hätten Angst vor einer langen Autofahrt. Die Sprechstunde vor der Webcam spare somit nicht nur Zeit, sondern vermeide unnötigen Stress. Aber: „Rein rechtlich ist eine Diagnostik nicht erlaubt", betont Rüger. Die Telemedizin dürfe ausschließlich für Beratungen genutzt werden, etwa im Hinblick auf Impfungen, Reisen oder Futter-Umstellungen.
Technisch gestaltet sich die Kontaktaufnahme dann aber doch komplizierter als eine Autofahrt nach St. Blasien: Zunächst müssen Kunden die Tierarztpraxis auf dem Internetportal „Jameda" suchen. Über einen Link wählen sie anschließend einen Termin für die Video-Sprechstunde aus. Ist das geschafft, erhalten die Kunden eine Tan-Nummer per E-Mail, also einen Code, den man eingeben muss, um das „virtuelle Wartezimmer" zu betreten. Wäre ein Griff zum Telefon nicht doch die schnellere Variante? Rüger widerspricht: „Am Telefon kann man nichts zeigen. Am Bildschirm sehe ich den Hund oder die Katze, um die es geht."
Der Tierarzt selbst empfindet die Telemedizin als persönliche Entlastung. „Ich bekomme sehr viele Anfragen per Telefon, für die ich natürlich nicht immer gleich eine Rechnung ausstelle", erzählt Rüger. Bei der Video-Sprechstunde sei das klarer geregelt – da fielen je nach Beratungstyp zwischen 15 und 20 Euro an. Bisher habe trotzdem nur ein Kunde das Angebot wahrgenommen; es sei um einen Hund mit Durchfall gegangen. Vielleicht liegt die Zurückhaltung aber auch an der Internetgeschwindigkeit auf dem Land. „Meine Anbindung ist zum Glück sehr schnell", sagt Rüger. „Aber bei meinen Kunden ist das nicht immer gegeben."
Die Datenschutzbehörde in Baden-Württemberg kritisiert die Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung. Um die Rechtmäßigkeit von „DocDirect" zu prüfen, habe die Behörde schon vor Monaten wichtige Dokumente angefordert – zum Beispiel darüber, welche Personen und Firmen Zugriff auf die Patientendaten erhalten, auf welchen Servern diese lagern und mit welcher Firewall die Daten geschützt werden.
„Diese technischen und organisatorischen Daten liegen uns noch nicht vor", sagt Datenschutz-Referent Matthias Roth. Auch sei es bislang völlig unklar, ob die Kassenärztliche Vereinigung als öffentliche Stelle des Landes überhaupt Patientendaten erfassen dürfe – im Sozialgesetzbuch gebe es ein solches Gesetz jedenfalls nicht. Grundsätzlich stelle die Datenschutz-Grundverordnung der EU hohe Hürden für die Anwendung der Telemedizin auf – damit etwa digitale Patientenakten nicht gehackt werden oder in die Hände von Unbefugten gelangen können.
Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg reagiert ausweichend auf die Kritik. „Wir sind in ständigem Kontakt mit der Datenschutzbehörde", beteuert KVBW-Sprecher Kai Sonntag. Auf die Frage, warum die angeforderten Dokumente noch nicht verschickt wurden, aber das Projekt trotzdem schon läuft, antwortet er: „Das ist ein fortlaufender Prozess, bei dem wir ständig in Kontakt stehen. Dass bei einem solchen Projekt noch Fragen offen sind, ist doch klar." Die Server stünden in Deutschland und gehörten zum IBM-Konzern, heißt es aus der Pressestelle der KVBW.