Obwohl mit HIV verwandt, ist das schon vor rund 40 Jahren entdeckte Virus HTLV-1, das zum Beispiel Blutkrebs auslösen kann, der Weltöffentlichkeit unbekannt geblieben. Dabei sind Millionen von Menschen damit infiziert. Einen Impfstoff oder ein Heilmittel gibt es bislang nicht.
Eigentlich mehr als verwunderlich, dass der weltweit bekannte US-Star-Wissenschaftler Robert Gallo bei der Vergabe des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin bislang stets übergangen wurde. Bezüglich der HIV-Entdeckung hatte er vergeblich seine Ansprüche angemeldet. Doch ganz unstrittig sind seine Verdienste um die Identifizierung eines anderen Virus 1980, das als Humanes T-lymphotropes Virus 1 in die Forschungsgeschichte eingehen sollte, aber in der Regel nur unter der Abkürzung HTLV-1 auftaucht. Die Entdeckung von HTLV-1 galt als absolute Sensation, handelte es sich doch um das erste beim Menschen gefundene Retrovirus überhaupt. Diese spezielle Virengattung, die dazu in der Lage ist, ihr Erbgut so zu verwandeln, dass es in die DNA des Wirtes integriert wird und dadurch dessen Erbgut verändern kann, hatte man bis dahin nur mit der Tierwelt in Verbindung gebracht.
Da dieses Virus erwiesenermaßen bei Tieren als Verursacher schwerer Erkrankungen wie diverser Krebsformen bekannt war, hätte sein Nachweis beim Menschen eigentlich intensivste Forschungsarbeiten auslösen müssen. Doch rund ein Jahr später tauchte mit HIV ein weiteres Retrovirus auf: Der Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids galt fortan die volle Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Im Schatten der rasanten HIV-Forschung geriet HTLV-1 schnell in Vergessenheit. Nun meldet es sich mit mindestens zehn Millionen Infizierten weltweit zurück. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, weshalb häufig auch von 20 Millionen Betroffenen gesprochen wird. Bei etwa jedem Zehnten löst das HTLV-1 gravierende Krankheiten wie Blutkrebs aus. Es gibt dagegen kein Heilmittel, keine Impfung. Ist das Virus erst einmal im Körper angelangt, verbleibt es dort lebenslang.
Obwohl der Erreger vor fast 40 Jahren entdeckt wurde, hat bislang kaum jemand von ihm Notiz genommen, geschweige denn Gelder für seine Erforschung investiert. Grund genug für 60 renommierte Wissenschaftler, in einem offenen, im Magazin „Lancet" publizierten Brief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu erhöhten Anstrengungen im Kampf gegen das Virus HTLV-1 aufzufordern. „Im Gegensatz zu HIV-Patienten erhielten Menschen, die sich mit HTLV-1 infiziert hatten, nur wenig Aufmerksamkeit", bedauern die Forscher. Finanzielle Mittel für Medikamentenentwicklung oder klinische Studien habe es bislang kaum gegeben. Es sei höchste Zeit, das Virus auszurotten. Die Unterzeichner des Briefes dürfte auch ein schlechtes Gewissen peinigen. Robert Gallo: „Ich habe überhaupt nicht mehr an HTLV-1 gearbeitet, und das war ein Fehler, ein großer Fehler." Aber auch der WHO wirft Gallo Versäumnisse vor. So habe die WHO das Virus HTLV-1 nicht einmal in die von ihr erstellte Liste der sexuell übertragbaren Krankheiten aufgenommen. Dabei würden sich 80 Prozent der Betroffenen beim Sex infizieren, so die Angaben in dem Schreiben an die WHO. Dazu kämen noch 20 Prozent, denen das Virus von ihren Müttern beim Stillen übertragen wurde. Nur in Einzelfällen konnte auch eine Weitergabe durch Bluttransfusionen nachgewiesen werden.
In Deutschland noch selten
Viele Menschen, die mit HTLV-1 infiziert sind, wissen nichts davon. Denn in den meisten Fällen verursacht das Virus, das durch einen Bluttest nachgewiesen werden kann, keine Symptome. Doch für etwa zehn Prozent der Betroffenen hat die Infektion gravierende Folgen. Fünf Prozent erkranken an Blutkrebs, die Tumorerkrankung Adulte T-Zell-Leukämie führt bei akutem Verlauf schon nach wenigen Monaten zum Tod. Bei etwa drei Prozent der Infizierten hat das Virus eine neurologisch-degenerative und kaum therapierbare schwere Erkrankung des Rückenmarks namens Tropisch Spastischer Parese zur Folge, sie weist gewisse Ähnlichkeiten mit der Multiplen Sklerose auf.
Auch eine krankhafte Erweiterung der Bronchien namens Bronchiektasie, ein schweres Lungenleiden, könnte HTLV-1 als Auslöser haben. Auch Entzündungen der Haut, der Augen, der Gelenke und Muskeln können, wie auch eine allgemeine Schwächung des Immunsystems, bei Infizierten auf das Virus zurückgeführt werden. Es wird vermutet, dass das Virus vor Zehntausenden von Jahren in Afrika von Affen auf Menschen übergesprungen war und anschließend unter anderem durch den Sklavenhandel auf dem gesamten Globus verbreitet wurde. Heute ist es auf der Welt recht ungleich verteilt, vor allem ärmere Regionen wie die Karibik, Äquatorialafrika oder Brasilien sind davon betroffen. In Westeuropa ist das Virus äußerst selten anzutreffen, in Deutschland gibt es laut Angaben des Robert Koch-Instituts jedes Jahr nur ein oder zwei bestätigte Fälle.
In Japan, vor allem im Süden es Landes, soll es etwa eine Million Infizierte geben, das Virus wurde dort wohl schon im 16. Jahrhundert durch Seefahrer eingeschleppt. Dramatisch ist die Situation unter den Ureinwohnern Australiens. Gemäß einer bereits 2016 veröffentlichten Studie trägt in Zentralaustralien fast jeder zweite erwachsene Aborigine das Virus in sich.
Bislang gibt es noch keinerlei Behandlungsmöglichkeiten für das Virus selbst, nur die Symptome der Folgekrankheiten können therapiert werden. In Japan wird schon etwas intensiver in Sachen HTLV-1 geforscht, aber ein Impfstoff konnte noch nicht entwickelt werden. Letztendlich helfen eigentlich nur präventive Schutzmaßnahmen.