Clueso setzt seine Richtungsänderungs-Saga fort. Sämtliche Songs auf dem Akustikalbum „Handgepäck I" sind auf Reisen entstanden, wobei die Stimme des 38-Jährigen diesmal durch feine Nuancen und Intonationen besticht. Im Interview spricht der Sänger über seine Reiseerfahrungen, die Flüchtlingskrise und die Neue Rechte.
Clueso, das Album „Handgepäck I" enthält Songs, die Sie im Lauf der Zeit auf Reisen schrieben und aufnahmen. Der Titel suggeriert, dass da noch mehr kommt. Stimmt’s?
Der Titel zwingt mich dazu, mindestens ein „Handgepäck II" zu machen. Ich hatte für dieses Album schon so viele Songs, dass welche runtergeflogen sind. Ich werde wahrscheinlich immer Songs auf der Gitarre machen und auf Tour sein. Musik ist für mich der Ausgleich zur Musik, ein Ruhepol und eine Art von Meditation. Selbst wenn ich vom Musikmachen komme, nehme ich noch die Gitarre in die Hand. Es wird von mir immer auch Songs geben, denen das große Gewand nicht guttut. Deshalb gibt es jetzt „Handgepäck I". Ich arbeite seit meinem 16. Lebensjahr mit dem Programm Logic und kann aus wenig viel machen. Ich habe diese Songs über einen Zeitraum von sieben Jahren aufgenommen und seitdem nicht mehr angefasst. Ein paar habe ich zum Mischen gegeben, sie klingen aber wie die Demos.
Hatten Sie die Sorge, dass das Album in sich nicht stimmig sein könnte?
Der Sound ist vorgegeben durch die Gegebenheiten und die Vorbilder. Der Fingerprint war schon da, sonst hätte ich wahrscheinlich etwas draus machen wollen. Aber ich habe lieber den Fokus aufs Kleine gelegt.
Auf dem Album machen Sie Musik wie der junge Bob Dylan. Ein Einfluss?
Er und Neil Young sind Vorbilder von mir, aber auch Angus und Julia Stone. An diesen Namen kommt man nicht vorbei.
Sie haben das Album selbst aufgenommen, die meisten Instrumente eingespielt, alles arrangiert, produziert und sogar selbst abgemischt. Hat es etwas Befreiendes, so autark zu arbeiten?
Ich fand allein das Rummachen an den Dingern so geil! Es hat tatsächlich etwas Befreiendes. Meine Freunde, mein Management und mein Label haben mich darin bestärkt. Das Ergebnis klingt viel emotionaler als wenn jemand versucht hätte, das Ganze zu reproduzieren. Ich habe auch Top-Leute gefragt, aber das Skizzenhafte passt einfach besser zu diesem Album.
Wollen Sie mit dieser Platte erzählen, wer Sie eigentlich sind?
„Handgepäck" ist sehr nahe an mir, weil ich von Anfang an auf der Gitarre Songs geschrieben habe. Die drehen sich immer um mich, aber ich versuche auch, Figuren zu erfinden wie bei „Waldrandlichter". Die lernen dann laufen und sind ich und trotzdem anders. Ich war nie in einem Internat, aber ich bin angeeckt mit meiner Kunst. Ich bin ausgestiegen aus der Gesellschaft und eingestiegen in die Musik.
Wollen Sie sich selbst überraschen?
Natürlich. Ich freue mich zum Beispiel sehr über das Lied „Kurz vor Abflug", weil ich das Thema bisher noch nicht hatte. Aber ich mache auch gerne Cover, zum Beispiel von den Puhdys. „Wenn ein Mensch lebt" war ursprünglich für eine Mockumentary über Skaten in der DDR gedacht, aber beim Überspielen der Filmrolle wurde der Titel vergessen. Egal, ich habe ihn dann immer live gespielt. Die Version auf der Platte wurde übrigens mit nur einem Mikrofon aufgenommen.
In welchen Ländern und Orten haben Sie die insgesamt 18 Songs aufgenommen?
Unter anderen Fuerteventura, Neuseeland, Australien, Malaysia, Singapur, Bangkok, Sri Lanka, Paris. Im Prinzip war es eher eine Schnipseljagd. Die erste Strophe von „Einfache Fahrt" ist zum Beispiel bei einer Zugfahrt entstanden. Die Textdateien hatte ich alle in einem Ordner abgelegt, den ich „Handgepäck" genannt habe, weil ich immer mit wenig Ballast reise. Auf diese Weise ist ein Sog entstanden.
Reisen Sie immer alleine?
Nein, ich reise auch in kleinen Gruppen. Eine große Reise ist körperlich anstrengend; wenn du Glück hast, wirst du gleich am Anfang krank. Ich buche wenig im Vorfeld, weil ich gern irgendwo hingespült werden will. Das kann auch anstrengend sein, denn manchmal hat man Bettwanzen. Da ich durch meinen Beruf viele Eindrücke habe, will ich auch mal ohne Menschen weg. Dann sitze ich im Zug, und ein Opi gegenüber packt seinen Wein und Käse aus und lädt mich ein. Und er ist auch noch Franzose! So was passiert einem nur alleine.
Wurden Sie unterwegs oft eingeladen?
Ja. In armen Ländern wie Äthiopien wurde ich zum Essen eingeladen. Das lässt sich auch nicht vermeiden, wenn es warm ist und die Ziegen mit im Wohnzimmer sind. Ich war dort mit der Hilfsorganisation Viva con Agua.
Welche Begegnung ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Da wüsste ich gar nicht, was ich rausgreifen sollte. Ich habe so viel Gastfreundschaft erlebt! Es gibt den Satz: „Die schlimmste Weltanschauung haben die, die die Welt nie gesehen haben". Da ist was dran. Das ist das Politische an meinen Songs. Mich fasziniert die Mentalität bitterarmer Leute in Äthiopien, die ihr Brot mit dir teilen. Sie wälzen die Probleme, die sie mit ihrer Regierung haben, nicht auf andere ab, indem sie sagen: „Die haben Schuld!" Sondern sie sagen: „Wir müssen das lösen!" Das ist etwas, das ich von einer Reise mitnehme. Immer schön menschlich bleiben und Empathie entwickeln!
Sie engagieren sich für SOS Méditerranée. Welches Ziel hat diese Hilfsorganisation?
Das sind Boote, die rausfahren und versuchen, Menschen in Not zu retten. Aber sie werden nicht ausreichend unterstützt. Allein in diesem Jahr sind 2.400 Flüchtende gestorben. Niemand will sie haben, weil die Grenzen zu sind. Die Flüchtenden hängen manchmal tagelang auf dem Wasser, sind völlig dehydriert und manche sterben auch. Aber man kann sie doch nicht absaufen lassen! Doch genau das passiert gerade, weil die europäische Politik es einfach in Kauf nimmt. Ich glaube, wenn jemand seine Kinder in solch ein Scheißboot setzt, gibt es einen Grund dafür. Mir unbegreiflich, wer da keine Empathie entwickelt.
Innenminister Horst Seehofer witzelte kürzlich über 69 Afghanen, die ausgerechnet an seinem 69. Geburtstag abgeschoben wurden. Einer der Zurückgeschickten brachte sich daraufhin um.
Wir leben wirklich in einer krassen Zeit. Es gibt natürlich auch Menschen, die wollen aggressiv sein, die kannst du nicht mehr retten. Aber man kann sich um deren Kinder kümmern. Obwohl ich nicht gern politische Texte schreibe, überlege ich mir, solche Themen aufzugreifen.
Haben Sie die Hoffnung, mit Ihrer Musik etwas anzustoßen?
Ja, natürlich hoffe ich mit meiner Musik oder meiner Persönlichkeit etwas zu bewegen. Mir ging es ja mit anderen auch so. Ich habe bei einem Konzert für Amnesty International Joan Baez und Patti Smith persönlich getroffen und gesehen, was sie bis heute für eine aktionistische Energie haben. Das sind Legenden, aber mit einem Augenzwinkern.
Die Lieder auf „Handgepäck I" sind in Hotelzimmern und Autos, hinter der Bühne, auf Inseln und Bergen entstanden. Welches war der ungewöhnlichste Ort, an dem Sie je ein Lied geschrieben haben?
Ein Hotel in Thailand, wo die Tür offen war und man die Geräusche von draußen hören konnte. In Äthiopien habe ich in einem Bus geschrieben. Da wollte ich sogar aufnehmen, aber es war zu laut. Ein Lied habe ich auf der Tournee mit Udo Lindenberg gemacht. Das Hotelzimmer war voll, acht Leute saßen auf dem Bett und auf dem Balkon haben welche geraucht. Es saßen welche in der Ecke und haben getrunken, aber keiner war am Handy. Und dann ging die Gitarre rum, und jeder spielte einen Song vor. Es war eine ganz gechillte, geile Stimmung. Und dann habe ich das Mikrofon ausgepackt und gesagt, dass ich jetzt einen Song machen will. Die Couch fungierte als Kick und das Schnippsen als Snare. Der Text war einfach da; mit Publikum fällt mir immer etwas ein. Das liegt daran, dass ich vom Rap komme. Den Song habe ich „Zimmer 102" genannt.
Fällt Ihnen die Arbeit mit Udo Lindenberg auch so leicht?
Ja, schon. Ich schreibe gern mit Freunden oder schnappe Sätze auf, die Leute erzählen. Die Gedichte von Mascha Kaléko habe ich immer dabei, weil sie mich sehr inspirieren.
Was befindet sich in Ihrem Handgepäck, wenn Sie reisen?
Manchmal kaufe ich mir unterwegs eine Kindergitarre und verschenke sie dann wieder. Ich will nicht, dass man mir schon von Weitem ansieht, dass ich Musiker bin. Manchmal habe ich sie aber von Anfang an dabei. Der Rest vom Handgepäck ist ein bequemes Outfit: eine dunkle Jeans und eine Jacke. Den Rest kann man sich meistens vor Ort besorgen. Handgepäck hat den Vorteil, dass man nicht jeden Scheiß einkaufen kann; der Konsum fällt bei mir aus. Früher wollte ich immer etwas mit nach Hause nehmen, aber das passte meist nicht mehr rein.
Wie bewegen Sie sich vor Ort?
Mit dem Bus oder der U-Bahn. Wenn das zu stressig ist, nehme ich auch mal ein Taxi. Ich achte darauf, dass ich mich in den ersten Tagen nicht fertig mache. Gerade wenn man einen stressigen Beruf hat, besteht die Gefahr, schnell krank zu werden. Deshalb ruhe ich mich immer zwei Nächte aus, bevor ich eine Hardcore-Dschungeltour oder eine Wanderung mache. Auf der Insel Tioman in Malaysia sind wir über einen Trampelpfad in den Dschungel reingewatschelt, der immer schmaler wurde. Wir wussten nicht, ob wir da je wieder rauskommen. Das war mein erstes Dschungelerlebnis. Gepennt haben wir zu zweit in einer Holzhütte zusammen mit Leguanen. Wenn im Dschungel die Sonne untergeht, erwacht das Leben.
Wann ist ein guter Zeitpunkt für eine Reise?
Es passt eigentlich nie; ich muss aus meinem engen Terminkalender immer ein bisschen was raussprengen. „Handgepäck" ist auch ein Appell: Hey, ich bin Musiker, ich kann meinen Laptop überall aufklappen. Ich habe auch noch keine Kinder, auf die ich ein paar Jahre aufpassen muss. Mach, geh raus! Die meisten Reisen sind mir eher passiert.
Spüren Sie immer, wenn ein Lied zu Ihnen kommt?
Ich merke immer, wenn ich eine besondere Energie dafür übrig habe. Ich kann mich dann abschotten und versuchen, das Lied fertig zu machen oder ich plänkele diesen Moment weg und halte ihn als Skizze fest wie 100.000 Sachen auf meinem iPhone. Vielleicht bleibt es da aber für immer liegen.
Haben Sie schon einmal wertvolle Aufnahmen verloren?
Manchmal suche ich nach einem bestimmten Song, finde ihn aber nicht wieder, weil ich nicht gelernt habe, wie man Sachen beschriftet oder ich einen Wortdreher drin habe. Es gibt aber diese Weisheit, die besagt, dass nichts verloren geht, was wirklich wichtig ist. Ich sage mir dann immer: Es war für etwas gut. Ich war mal mit einem Kumpel in einem Computerladen in Erfurt. Die Typen wollten von uns wissen, ob wir ein Back-up hätten. Hatten wir nicht. Da sagten sie zu uns: „Kein Back-up, kein Mitleid!"
Was ist Ihnen persönlich wichtig in Ihrem Business?
Entscheidungshoheit! Weil ich so viele Ideen habe, denen nur ich gerecht werden kann. Da wird mir natürlich hier und da von rechts und links reingeredet. Das sind Lösungsvorschläge, aber nicht alle sind passend. Deshalb ist es gut, wenn ich die Entscheidungshoheit habe. Aus „Handgepäck" kann man keine radiotauglichen Songs machen. Das wäre konzeptioneller Verrat. Wir müssen uns dafür andere Promo-Mittel überlegen. Aber beim nächsten Album sind wir wieder am Start.