Vor rund 90 Jahren ging es in Berlin wie heute darum, bezahlbare Wohnungen zu schaffen, in denen es sich gut leben lässt. Sechs dieser Großsiedlungen sind Unesco-Welterbe – und haben als solches jetzt den zehnten Geburtstag gefeiert.
Nicht jeder Gastwirt kann seinen Gästen den doppelten Espresso im Welterbe-Ambiente servieren. Riadh Gose schon. Der Betreiber des Cafés „Eckstern“ war lange auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten. Bis er inmitten der denkmalgeschützten Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg fündig wurde. Wo sich Gose, wie er betont, ausgesprochen wohlfühlt, gerade weil sich „hier in der Gegend so einiges tut“. Und weil die Architektur der Siedlung und seine Gestaltungsideen gut zusammenpassen. Riadh, der früher Kunstlehrer in Libyen war, hat beispielsweise für sein Café alte Stühle aus dem Palast der Republik gekauft und restauriert.
2008 hatte die Unesco sechs Berliner Siedlungen der Moderne als Welterbe anerkannt – in diesem Jahr wird das
zehnjährige Bestehen der Auszeichnung gefeiert. In Prenzlauer Berg bei der Legien-Siedlung ebenso wie in der Hufeisensiedlung in Britz, der Gartenstadt Falkenberg in Treptow und der Siedlung Schillerpark in Wedding. Aber auch in der Weißen Stadt in Reinickendorf und in der Großsiedlung Siemensstadt. Jede dieser Siedlungen hat ihre eigene architektonische Besonderheit. Mal besteht sie aus vielen Reihenhäusern oder, wie in Prenzlauer Berg, aus Vier- bis Fünfgeschossern, die in U-Form gruppiert wurden.
Einheitlich bei allen sind aber die großzügige, klare Gestaltung und der Einsatz von Farben bei Türen und Fensterrahmen, aber auch im Innenwohnbereich. Alle Welterbe-Siedlungen – in der Zeit von 1913 bis 1932 gebaut – entsprachen dem damaligen Bedürfnis nach neuen Lebensformen. Man wollte weg von den in der Kaiserzeit gebauten grauen Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen und den dortigen Lebensbedingungen in Enge und mit oft unhygienischen Verhältnissen. Stattdessen wurde der Ruf laut, neue Wohnbedingungen zu schaffen, mit viel Licht und Luft und Grün in der Nähe.
Wohnungsbau der Moderne
Um 1920 boomte Berlin. Eingemeindungen, der Zuzug neuer Bewohner und die junge Weimarer Republik schufen optimale Voraussetzungen, aber auch Notwendigkeiten für Veränderungen im Wohnungsbau. Und da waren Bruno Taut, Martin Wagner und Franz Hilliger als Planer und Architekten genau passend. Auch Hans Scharoun, Hugo Häring und Walter Gropius stießen dazu. Sie alle revolutionierten den städtischen Wohnungsbau, normierten Planungsprozesse. Unter Verwendung moderner Baustoffe entwickelte sich der soziale Wohnungsbau der Moderne, einer der Schwerpunkte war es, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Freiräume für Gemeinschaftsflächen und Wohnungen mit neuer Struktur und Funktonalität entstanden. Waschhäuser oder Grünflächen in den Höfen wurden zu wichtigen Treffpunkten.
Doreen wohnt in einer der 1.149 Wohnungen der Carl-Legien-Siedlung. Jede der Eineinhalb- oder Viereinhalb-Zimmer-Wohnungen hat Bad, Küche und einen Balkon oder eine Loggia. Nicht selbstverständlich für die damals rund 4.000 Bewohner, davon zwei Drittel Arbeiter und ein Drittel Angestellte. Neu war im Konzept die Lage der Funktionsräume in der Wohnung. Bad und Küche platzierten die Architekten zur Straße, die Wohnräume und Balkone oder Loggien zum begrünten Innenhof.
„Ich liebe es, wenn die Sonne die Wohnung durchflutet und der Wind durch die Zimmer weht. Nicht zu vergleichen mit meiner früheren Wohnung“, erzählt Mieterin Doreen. Auch das Farbkonzept, das Bruno Taut für Wohnungen und Höfe erdachte, gefällt ihr. So schaut sie zur Straßenseite auf helle, zur Gartenhofseite auf rote, grüne oder blaue Nachbarfassaden. Die Hausleitfarbe findet sich dann auch in Details wieder – bei Eingangstüren, Fensterrahmen oder Treppenhäusern, hier sind es verschiedene Rottöne. Und in einer originalgetreu restaurierten Modellwohnung leuchten Wände in Grün, Ocker oder Rotvarianten. Eine ungewohnte aber gewollte Farbenpracht, die nach Tauts Vorstellungen Lebensfreude vermitteln sollte.
Sechs Siedlungen als Welterbe
Längst sind die Innenanstriche der Wohnungen nicht mehr so farbintensiv. Der Geschmack und die Designs haben sich mit der Zeit verändert. „Für die Mieter in den Welterbe-Siedlungen gibt es in den Wohnungen keine besonderen Auflagen oder Einschränkungen. Von außen aber dürfen sie zum Beispiel keine Markisen anbringen, da müssen wir uns an die Auflagen des Denkmalschutzes halten“, sagt Mira Schnittger von der Wohnungsgesellschaft Deutsche Wohnen SE. Wird durch denkmalpflegerische Auflagen und Einschränkungen das Wohnen in einem Weltkulturerbe zu einem Problem?
Für den Denkmalschutz sind zunächst die Eigentümer der Siedlungen Ansprechpartner. Vier der insgesamt sechs Welterbe-Siedlungen der Berliner Moderne, nämlich die Hufeisensiedlung, die Wohnstadt Carl Legien, die Ringsiedlung Siemensstadt und die Weiße Stadt sind im Eigentum der Deutsche Wohnen. Die Siedlung Schillerpark und die Gartenstadt Falkenberg hingegen gehören der Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG. Dazu kommen noch die vielen Privateigentümer der Reihenhäuser in der Hufeisensiedlung.
Die Herausforderung bestehe für die Denkmalpfleger darin, mit den vielen unterschiedlichen Eigentümern die notwendigen Auflagen umzusetzen, heißt es vom Landesdenkmalamt. Dieses sei sich darüber im Klaren, dass es zeitgemäße Lösungen für das Leben im denkmalgeschützten Ensemble geben muss. Das sagt Dr. Ramona Dornbusch, Referentin für Welterbe beim Landesdenkmalamt Berlin. Ziel sei es, für jede Siedlung Leitfäden für den denkmalgerechten Umgang zum Beispiel mit den Freiflächen und Gärten zu entwickeln. Dabei sei immer auf Bausubstanz und Einzigartigkeit der jeweiligen Siedlung zu achten. Einen Leitfaden für den Umgang beispielsweise mit den Grün-und Freiflächen gibt es bereits für die Hufeisensiedlung in Britz.
Ein Beispiel für heute?
In Prenzlauer Berg wurde in der Legien-Siedlung bis 2013 denkmalgerecht saniert, wärmegedämmt; aber auch Grünflächen wurden instandgesetzt. Einst als reine Wohnsiedlung entworfen und gebaut, findet heute allmählich eine Durchmischung mit kleinen Geschäften und Betrieben statt.
Neben dem Café Eckstern gibt es an den Randbereichen der Wohnkomplexe Friseur, Orthopädiegeschäft und Pflegedienst – sowie die Konditorei Wunderkuchen. „Je länger ich hier wohne, desto mehr liebe ich diesen Kiez, die Gradlinigkeit und Farbigkeit von Bruno Tauts Architektur“, meint Bewohnerin Doreen. Das Wohnen mit viel Luft, Licht, und Grün habe an seiner Attraktivität seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nichts verloren. Im Gegenteil: Gerade angesichts der heutigen Situation im sich verdichtenden Berlin sind die Welterbe-Siedlungen mehr denn je positive Beispiele für sozialen Wohnungsbau.