Der Arbeitnehmerflügel der CDU, die CDA, sieht sich traditionell als Hüterin der christlichen Soziallehre. Das soll auch in zentralen Punkten im neuen Grundsatzprogramm deutlich erkennbar werden, sagt der saarländische Landeschef Marc Speicher.
Herr Speicher, die CDA war innerhalb der Union so etwas wie ein vernehmbares soziales Gewissen. Zuletzt ist es eher ruhig geworden. Hat die CDA nichts mehr zu melden?
Im Gegenteil. Wenn Sie in das Wahlprogramm der CDU Saar oder das Regierungsprogramm schauen, ist eine klare Handschrift der CDA erkennbar. Ich habe bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag für die Bereiche Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr teilgenommen. Bei den Themen dauerhaft geförderter öffentlicher Arbeitsmarkt, Passiv-Aktiv-Transfer und vor allem Stärkung der Mitarbeiterbeteiligung sowie Ausbau der Eigentums- und Vermögensbildung finden sich klare CDA-Positionen wieder. Dauerhaft öffentlich geförderter Arbeitsmarkt, Arbeit 4.0 und Sozialpartnerschaft 4.0 in einer digitalisierten Arbeitswelt und die Frage, wie wir es mit dem Industrieland Saarland halten, spielen eine entscheidende Rolle. Das Saarland ist Industrieland und muss es auch bleiben! Aber Sie haben Recht: Wir werden uns in Zukunft weiter und noch stärker als bisher auch öffentlich äußern. Das ist unser Anspruch und auch mein erklärtes Ziel, als ich vor einem Jahr den Landesvorsitz übernommen habe.
Der Vertrauensverlust der Menschen in die Politik ist unbestritten. Das betrifft vielfach vor allem soziale Fragen. Welche Antworten haben die Sozialpolitiker darauf?
Politik muss von dem ausgehen, was ist! Es bringt uns nichts, den Menschen, Bürgern, also dem Souverän, vorschreiben zu wollen, was man zu denken hat. Viele sind heute verunsichert. Darauf muss Politik eingehen. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit offenem Ohr. Wir dürfen nicht zulassen, dass manche zuweilen den Eindruck haben, beim Äußern ihrer Meinung oder ihrer Ängste in eine Ecke gestellt zu werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Eindruck entsteht. Vor allem dürfen wir nicht zulassen, dass Populisten von Links und Rechts sich das zunutze machen, dadurch die Oberhand gewinnen. Ich meine, wir sind in einer entscheidenden Phase. Mein Anspruch an die CDA ist es auch deshalb, dass wir uns nicht auf bestimmte Politikbereiche einengen lassen. Es kommt jetzt themenübergreifend darauf an, den Leuten nicht Dinge zu versprechen, die man nicht halten kann. Genau darin liegt einer der Hauptgründe, warum Vertrauen in Politik verlorengeht. Beispiel Rente: Es gibt vom Grundsatz her eine stabile Rente. Aber das muss auch so bleiben. Die Menschen haben einen Anspruch auf eine sicherere, planbare und verlässliche Rente. Daher muss Politik diese Aufgabe zusammen mit den Menschen lösen und nicht nur die Rente schlechtreden.
Hilft das gegen die drohende Altersarmut, vor der Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften warnen?
Jetzt wird es ernst: Langsam kommen die Jahrgänge mit gebrochener Erwerbsbiografie, Zeiten der Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung in Rente. Es muss das Prinzip gelten: Wer gearbeitet hat, muss im Alter besser dastehen als jemand, bei dem das nicht der Fall ist. Beim Thema Rente steht die Einigung bis 2025. Auch darüber hinaus ist das Umlageverfahren als Hauptpfeiler in Kombination mit – noch stärker als bisher – auch öffentlich geförderter privater Absicherung sowie betrieblicher Altersvorsorge der beste Garant für eine gute Rente im Alter. Noch dringender ist schon heute Handlungsbedarf bei Familien, vor allem bei Alleinerziehenden. Es kann doch nicht sein, dass Kinder zu kriegen heute zu den größten Armutsrisiken gehört! Familien mit Kindern sorgen dafür, dass unser Staat auch morgen noch funktioniert. Es gibt zwar bereits heute große Transferleistungen für Familien, aber ich glaube, dass schon der Begriff falsch ist. Das beste „Investment" in einem funktionierenden Gemeinwesen sind eben Kinder. Es braucht gesamtgesellschaftlich einen starken Schwenk für mehr und bessere Unterstützung derer, die mit ihren Kindern die Grundlage für ein funktionierendes Gemeinwesen von morgen legen. Aber das muss auch solide erfolgen. Es kann doch nicht sein, dass ein Kind heute kostenfrei in den Kindergarten geht, ihm aber dafür ein schwerer Rucksack vollgepackt mit Schulden aufgeschnallt wird. Den muss es morgen doppelt und dreifach zurückzahlen.
In Wirtschaftskreisen, auch der IHK Saar, gibt es die Überlegung, dass Kitas ohne und Studium mit Gebühren ein sinnvoller Weg wäre.
Die Eltern müssen bei den Kita-Gebühren entlastet werden. Stimmt. Deutlich weniger Gebühren als heute muss klar das Ziel sein. Wir sind da auf gutem Weg. Ein Studium ist ein Investment in das eigene Leben. Aber es ist so, dass es noch immer zu stark von der Situation der Eltern abhängt, wer studiert oder nicht. Dass ein Kind aus einem Nicht-Akademikerhaushalt studiert, ist fast nirgendwo so unwahrscheinlich wie in der Bundesrepublik. Das steht exemplarisch für zu geringe Aufstiegschancen. Deshalb sind Studiengebühren der falsche Weg. Das sind neue Hürden. Es muss vom Fleiß und eigenen Leistungen abhängen, was aus einem wird. Man sollte daher über eine Art „Aufstiegspakt" nachdenken. Den Übergang von der Schule in die duale Ausbildung oder das Studium erleichtern. Und wir müssen nachbessern bei der Weiterbildung von Älteren. Das könnten Elemente eines Aufstiegspaktes sein.
Wie ernst muss man die Warnung vor einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft nehmen?
Entscheidend ist ein Grundmaß eines gesellschaftlichen Grundkonsenses. Viele haben das Gefühl, die Bindung zwischen den Menschen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, habe abgenommen. Politik kann hier nur begrenzt helfen. Der Staat, das sind wir alle. Dieses Zitat von Alfred Herrhausen ist eigentlich eine Binsenweisheit, aber grundlegend für Zusammenhalt in unserem Gemeinwesen. Daraus folgt als eine von vielen Fragen die der möglichen sozialen Spaltung. Die gibt es, auch wegen staatlicher Eingriffe, beim Einkommen relativ wenig. Aber die kleineren und mittleren Einkommen haben tatsächlich in den letzten 30 Jahren real weniger im Geldbeutel.
Ja, wir haben historische Höchststände bei der Beschäftigung. Im Saarland wie im Bund – und zwar sozialversicherungspflichtig. Aber dafür haben wir auch einen Preis gezahlt, zum Beispiel durch Lohnzurückhaltung, weniger Planungssicherheit und mehr Flexibilität. Wir haben auch einen Rückgang bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Aber da müssen wir noch besser werden. Vor allem für die Betroffenen, weil es krank macht, sich nicht gebraucht zu fühlen. Aber auch volkswirtschaftlich, zum Beispiel eingedenk des Fachkräftemangels. Es braucht einen dauerhaft geförderten öffentlichen Arbeitsmarkt für die, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keinen Platz finden, und es braucht dafür eine dauerhafte Ausfinanzierung.
Dass ein Großteil der Menschen verunsichert ist, bestreitet niemand. Aber es gibt auch eine Ratlosigkeit darüber, wie dem begegnet werden kann.
Politik kann nicht zaubern. Auch wenn manche Politiker zuweilen das Gegenteil behaupten. Man sollte da ehrlich sein. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage, ob wir wieder mit Optimismus nach vorne blicken. Was die Politik betrifft, könnte es ja schon mal damit losgehen, die Verunsicherung von Menschen, vielleicht auch manchmal Ängste – sei es vor Zuwanderung oder Arbeitslosigkeit – ernstzunehmen und sie nicht reflexartig in Ecken zu stellen. Damit muss man sich auseinandersetzen. Das ist nun mal schwieriger als blindes Abtun, aber notwendig und Pflicht in einer Demokratie. Die meisten sagen heute: „Es geht mir gut". Aber die meisten sagen auch, in zehn oder 20 Jahren geht es mir oder meinen Kindern schlechter. Das war früher anders und ist einer der Hauptgründe für Verunsicherung und Zukunftspessimismus. Das alte Aufstiegsversprechen, meinen Kindern geht es einmal besser, sehen und spüren die meisten nicht mehr. Da gibt es viel zu tun.