Jedes zweite Kind in Deutschland trägt eine Zahnspange – obwohl deren medizinischer Nutzen wissenschaftlich kaum belegt und daher zunehmend umstritten ist. Selbst der Bundesrechnungshof äußerte Zweifel an den milliardenteuren Behandlungen.
Wenn Zahlen nicht gänzlich lügen, dann scheint es um die Gesundheit der Zähne deutscher Kinder und Jugendlicher ziemlich schlecht bestellt zu sein. Denn hierzulande bekommen mehr als 50 Prozent der Kinder, sprich mehr als jedes Zweite, eine Zahnspange verpasst, während diese kieferorthopädische Behandlung beispielsweise in Großbritannien nur bei zwölf bis 18 Prozent und in Schweden nur bei 27 Prozent der Kleinen und Heranwachsenden durchgeführt wird. Die diesbezüglichen Kosten für die deutschen Krankenkassen belaufen sich jährlich auf mehr als eine Milliarde Euro. Viele Eltern legen laut einer DAK-Studie zusätzlich noch im Schnitt zwischen 500 und 1.000 Euro aus eigener Tasche drauf, um auf den Rat des behandelnden Kieferorthopäden hin die eigentlich ab einem bestimmten Fehlstellungsgrad kostenfreie Versorgung durch Verwendung hochwertigerer Apparaturen möglichst noch effizienter zu machen. Schließlich will niemand bei der Gesundheit des geliebten Nachwuchses sparen. Und wenn dabei als schöner Nebeneffekt auch noch ein ebenmäßiges Lächeln mit herausspringt, wird dies gern auch mitgenommen.
Bis zu 1.000 Euro aus eigener Tasche
Dabei ist der medizinische Nutzen von Zahnspangen, außer zur Korrektur starker Fehlstellungen, keineswegs unumstritten. Kein Wunder daher, dass vor einigen Monaten selbst der Bundesrechnungshof deutliche und ungewöhnlich scharfe Kritik an den hohen Ausgaben für Zahnspangen-Behandlungen, die im Schnitt zwei bis vier Jahre lang dauern, geübt hatte. „In anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenkasse muss der Nutzen einer Therapie wissenschaftlich bestätigt sein", so Rechnungshof-Präsident Kay Scheller. Bei den entsprechenden kieferorthopädischen Behandlungen könnten die Krankenkassen aber auf keine entsprechenden fundierten Erkenntnisse zurückgreifen. Der „medizinische Nutzen ist nur unzureichend erforscht". Daher sind Zweifel, ob die Behandlung von Millionen von Kindern wirklich sinnvoll und notwendig ist, durchaus angebracht. Im Sinne der Patienten müsse, so Scheller, gestützt auf eine entsprechende Versorgungsforschung geklärt werden, welche Leistungen tatsächlich zu Behandlungserfolgen führen. Das Bundesgesundheitsministerium habe in dieser Hinsicht, trotz mehrerer Aufforderungen, bislang nichts unternommen.
Das Ministerium hatte die Kritik zurückgewiesen und auf die aus seiner Sicht überaus positiven und letztlich auch Ausgaben dämmenden Auswirkungen der seit 2002 geltenden kieferorthopädischen Indikationsgruppen-Regelung aufmerksam gemacht, wonach die Kassen beim fünfstufigen Behandlungsbedarfsgrad nur die Kosten für das Korrigieren von Fehlstellungen der Kategorien drei bis fünf übernehmen. Ins gleiche Horn stieß auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Die Zahl der abgerechneten Fälle und auch die Gesamtkosten seien dank der Indikationsgruppen-Regelung stark gesunken, allerdings seien gleichzeitig die Kosten pro Einzelbehandlung stark angestiegen.
SPD-Gesundheitsexperte Heiner Lauterbach hingegen hält die Kritik des Bundesrechnungshofs durchaus für berechtigt, weil es eben keine verlässlichen Studien über positive medizinische Auswirkungen von Zahnspangen gebe. Aus seiner Sicht würden die Kassen „zu viel Geld für junge und gesunde Mitglieder ausgeben und tendenziell zu wenig" für die Gebissprobleme älterer Menschen. Auch der CSU-Politiker Georg Nüßlein sieht Handlungsbedarf und fordert für die Verordnung von Zahnspangen eine Zweitmeinungspflicht, nicht zuletzt weil viele kieferorthopädische Behandlungen letztendlich vornehmlich aus kosmetischen Gründen durchgeführt würden. Auf dieses Problem wies auch der an den Baseler Universitätskliniken arbeitende Prof. Jens Türp hin: „Der weitaus größte Teil der kieferorthopädischen Behandlungen verfolgt ästhetische beziehungsweise psychosoziale Ziele." Diese Einschätzung wurde durch eine Studie der Handelskrankenkasse HKK gestützt, wonach sich die Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen allein aus optischen und sozialen Gründen, vor allem aus Furcht, gehänselt zu werden, für das Tragen einer Zahnspange entschieden hatten.
Die Kosten werden auf 1.900 bis 2.600 Euro taxiert
Ästhetische oder kosmetische Aspekte dürften die gesetzlichen Krankenkassen allerdings nicht interessieren. Denn eigentlich sollen Fehlstellungen der Zähne oder des Kiefers mittels Spangen nur aus dem Grund, spätere Folgeschäden zu vermeiden, möglichst frühzeitig korrigiert werden. Auch wenn bislang noch kein Nachweis erbracht werden konnte, dass die kieferorthopädische Behandlung zur Prophylaxe oder Therapie von Karies, Parodontitis oder Fehlregulationen der Kiefergelenke wirklich geeignet ist. Konkrete Daten, die belegen könnten, dass Kinder, die eine Zahnspange getragen hatten, später wirklich gesündere Zähne hatten, gibt es kaum. Nur eine leichte Reduktion des Risikos für Schneidezahntraumen gilt neben einem individuellen psychosozialen Nutzen, sprich einem erhöhten emotionalen Wohlbefinden, als gesichert.
Und doch basiert das gesamte Behandlungskonzept der deutschen Kieferorthopäden letztlich auf einem Urteil des Bundessozialgerichtes, laut dem Kiefer- oder Zahnstellungs-Anomalien wegen einer möglichen zukünftigen Schädigung des Gebisses seit 1972 als Krankheit gelten. „Mögliche Risiken der orthodontischen Therapie wie Zahnfleischentzündungen oder Schmelzschäden nach der Entfernung festsitzender Zahnspangen werden leider zu oft heruntergespielt oder überhaupt nicht erwähnt", so Türp. Der Greifswalder Kieferorthopäde Alexander Spassow sieht jedenfalls in der bloßen Existenz von Kiefer- und Zahnfehlstellungen noch keine legitime Begründung für eine kieferorthopädische Therapie. Schließlich habe kaum ein Mensch ein ideales Gebiss.
Auch der Ludwigshafener Kieferorthopäde Henning Madsen, seit vielen Jahren ein bundesweit bekannter Kritiker seiner im Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden zusammengeschlossenen Zunft, konnte bislang im Normalfall keinen gesundheitlichen Nutzen der Zahnspangen erkennen, sondern lediglich ästhetische Vorteile. Die internationale Forschung sehe, so Madsen, „keine oder nur eine schwache Wechselbeziehung zwischen kieferorthopädischen Behandlungen und der Gesundheit". In Deutschland wolle das allerdings niemand zur Kenntnis nehmen. Schon gar nicht der Kieferorthopäden-Bundesverband, schließlich sei es ein lukratives Geschäft, bei dem der Arzt mit wenigen Kontrollterminen „einen beachtlichen Umsatz generieren" könne. Die Kosten für eine Zahnspangen-Behandlung werden auf 1.900 bis 2.600 Euro taxiert. Als besonders problematisch sieht Madsen das frühe Anpassen von losen, meist lustig-bunten Klammern an Kinder schon im Grundschulalter. Britische Forscher hatten nämlich nachgewiesen, dass diese bei Milchzähnen überhaupt nichts bringen. Selbst die Kassenärztliche Bundesvereinigung empfiehlt daher eine Behandlung mit festen Spangen in der Regel erst zwischen dem zehnten und dem 13. Lebensjahr, weil sich die bleibenden Zähne dann dauerhaft umformen lassen.