In Trier befindet sich das weltweit einzige Museum zu Leben, Werk und Wirkung von Karl Marx. Die Dauerausstellung im Geburtshaus des Philosophen, Gesellschaftswissenschaftlers, Ökonomen und Journalisten wurde völlig neu konzipiert. Ein Besuch.
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Dieser Satz, der zum Jubiläumsjahr zu Marx 200. Geburtstag vielerorts zitiert wird, weckt mein Interesse. Der Wuschelbart war mir, als er zuletzt im Gymnasium auftauchte, suspekt. Im Zweifel war er an allem Bösen, am Kommunismus sowieso und an allen totalitären Systemen ebenso schuld. In Trier bin ich schon mehrmals am Karl-Marx-Haus vorbei-, aber niemals hineingegangen. Hat der Philosoph Karl Marx die Welt verändert?
Das Geburtshaus von Karl Marx zeigt eine neue Dauerausstellung mit dem Titel „Von Trier in die Welt. Karl Marx, seine Ideen und ihre Wirkung bis heute." und begreift sich als historisch-politischer Lernort. Mit meinem Nichtwissen bin ich die ideale Besucherin und somit recht am Ort.
Doktor der Philosophie
Die Ausstellungsmacher haben zum Einstieg den Kopf des Rauschebarts riesenhaft in Schwarz an die weiße Wand gepinselt und rund um den Schriftzug „Von Trier in die Welt" Schlagworte platziert: Universalgelehrter. Revolutionär & Ideengeber. Exilant. Radikal. Demokrat. Dreamteam.
Die Idee zum Entree, Informationen übergroß in Schreibschrift an die Wände zu malen, begegnet mir fortan nahezu in allen Ausstellungsräumen. Eine Konzeption, die die Räume größer und zudem mit vorzüglicher Beleuchtung hell, transparent und modern erscheinen lässt. Man fühlt sich von der Fülle des Materials, das es zu erkunden gilt, weder überfordert noch erdrückt – das Ausstellungsdesign begeistert mich auf der Stelle.
Das Geburtshaus von Marx, um 1727 als barockes Wohnhaus errichtet, 1928 durch die SPD erworben, wird seit 1968 von der Friedrich-Ebert-Stiftung als Museum betrieben. Karl Marx ist am 5. Mai 1818 geboren worden. Als er anderthalb Jahre alt war, kauften seine Eltern ein Haus nahe der Porta Nigra – Ironie der Geschichte: ein 1-Euro-Shop befindet sich heute darin – Marx lebte dort bis zum Alter von 17 Jahren. Erst 1904 lokalisierte man das Geburtshaus mittels eines Archivfundes. In einer Zeitungsanzeige vom April 1818 gab der Vater, der Anwalt war, den Umzug seiner Kanzlei in das Marx’sche Geburtshaus, bekannt. Die Familie bewohnte das Erdgeschoss und den ersten Stock, das Hinterhaus wurde später angebaut. Als 1968 das Haus als Marx-Museum eingeweiht wurde, soll Willi Brandt in seiner Rede daran erinnert haben, dass, was immer man aus Marx gemacht habe, das Streben nach Freiheit und die Befreiung der Menschheit aus Knechtschaft und Abhängigkeit Motiv seines Handelns gewesen sei.
Bonn, Berlin, Köln, Paris, Brüssel, London: Stationen seines Lebens. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Installation mit Sanduhren, die den Orten auch seine Aufenthaltszeit beimisst. Warum ist Marx so oft umgezogen? Das lässt sich mithilfe eines als Touchscreen bedienbaren Monitors herausfinden. Ich tippe fleißig. Es ploppt die Geburtsurkunde auf.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr wurde Marx zu Hause unterrichtet, dann besuchte er das Gymnasium in Trier, machte Abitur. In Bonn studierte er Jura, war ein lustiger Student, der gern Vaters Geld ausgab, wechselte an die Universität Berlin zum Studienfach Philosophie und wurde wegen Überschreitung der Regelstudienzeit exmatrikuliert. Im Karzer, der Arrestzelle, landete er nicht nur einmal. Der Doktor der Philosophie kam aus Jena – seine Doktorarbeit hatte er per Post eingeschickt. Liberale Bürger gründeten in Köln die „Rheinische Zeitung", er nahm den Posten des Chefredakteurs an – das Einkommen ermöglichte es ihm, seine Verlobte Jenny zu heiraten. Auf regierungskritische Artikel folgt das Zeitungsverbot. Auf nach Paris. Dort lernt Marx Heinrich Heine, der Freund der Familie wird, und Friedrich Engels kennen. Marx, der sich beständig für Pressefreiheit einsetzt, packt erneut journalistische Projekte an. Eines: der „Vorwärts", für den deutsche Intellektuelle schreiben. Die preußische Regierung mag sich Kritisches nicht gefallen lassen. Marx wird aus Paris ausgewiesen. Drei Jahre verbringt er im Exil in Brüssel. Im Februar 1848 bricht die Revolution in Paris aus und breitet sich in Europa aus. Marx und Engels gehen nach Köln, um die „Neue Rheinische Zeitung" zu gründen. Man schreibt über die Revolution, nach nicht einmal einem Jahr obsiegt die Obrigkeit: Das Blatt darf nicht mehr erscheinen. Auf nach London. Sieben Kinder werden in 13 Jahren geboren, nur drei erreichen das Erwachsenenalter. Bis der Familie eine Erbschaft zuteil wird, lebt sie unter prekären Verhältnissen. 15 Monate nach dem Tod seiner Frau Jenny stirbt Marx am 14. März 1883.
Vertriebener und Exilant
In einem Ausstellungsraum werde ich mit der Kapitelüberschrift „Das unvollendete Werk" überrascht. Wieso unvollendet?, frage ich mich und finde Antwort. Zwei Originale, „Manifest der Kommunistischen Partei" – 1848 in London produziert und gemeinsam mit Engels für den Bund der Kommunisten als Programmschrift geschrieben – und „Das Kapital" – 1867 in einer Auflage von 1.000 Stück erschienen – sind ausgestellt. Von seinem Hauptwerk konnte er Teil zwei und drei nicht vollenden. Engels publizierte diese nach Marx’ Tod. Das „Manifest der Kommunistischen Partei" und „Das Kapital. Erster Band" zählen seit 2013 zum Weltdokumentenerbe. Das Kommunistische Manifest leitet ein mit dem vielzitierten Satz „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus" und endet mit dem Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!". Marx und Engels erdachten ein Entwicklungsmodell der Gesellschaft und glaubten, dass aus der Industrialisierung der erwachsende Kapitalismus zu Krisen führe, die sich verstärken, was die Schere zwischen arm und reich vergrößere und die Revolution zur Folge haben werde.
Ich durchblättere einen alphabetisch sortierten Zettelkasten, der Auskunft gibt über Artikel, die der Journalist veröffentlicht hat. Das Schreiben war sein Brotberuf. Unter W: „Wiener Zeitung, 1 Artikel 1848". Unter T: „The Times, 5 Artikel 1850–1872", „Trier’sche Zeitung, 1 Artikel 1846". Marx war ein fleißiger Journalist, ein studierter Theoretiker, der dank seines reichen, großzügigen Freundes Engels, dessen Familie an einer Textilfabrik in Manchester beteiligt war, überleben konnte.
Journalismus als Brotberuf
Marx gilt als letzter Universalgelehrter. Er war technikbegeistert. Er lernte Russisch. Er las unheimlich viel. Auch über Geologie. Im Raum „Wie Karl Marx arbeitet" findet sich eine Exzerptseite mit Skizzen zum Bergbau. Seine Frau Jenny war in der Lage, seine Handschrift zu entziffern. Sie schrieb leserlich ab, was gedruckt werden sollte. Helene Demuth, in St. Wendel geboren, war Haushälterin der Familie – und mehr. Sie hatte mit Marx einen Sohn, der bei einer Pflegefamilie aufwuchs. Um den häuslichen Frieden nicht zu gefährden, wurde Engels als dessen Vater ausgegeben. Helene Demuth kommt in der Ausstellung und der Wandmalerei „Marx und die Frauen" jedoch nicht vor.
Im Saal „Die globale Wirkung Marx’scher Ideen" ist als Prunkstück mittig platziert: der Lesesessel aus seiner Londoner Wohnung. An der Wand steht geschrieben: „Die weltweite Armut, die politischen und wirtschaftlichen Krisen machen Marx’ Fragen nach den strukturellen Ursachen im 21. Jahrhundert aktuell." Die deutsche Sozialdemokratie vor 1914 beleuchtet das Kapitel „Karl Marx und die frühe Arbeiterbewegung". Das Thema „Der Marxismus – (k)eine geschlossene Lehre" wartet mit einer Malerei auf, die mit allen möglichen Ismen verdeutlicht, für welche Lehren und Irrlehren Marx herhalten soll. Langsam geht mir auf, dass die Vorstellung von Marx, „der im Zweifel an allem Bösen schuld ist", nicht richtig sein kann.
Dreamteam Marx und Engels
An einer Wand sind abnehmbare Täfelchen montiert, die dazu einladen, deren Rückseite zu lesen. Ich greife zu. Die Vorderseite zeigt ein Formular: „Angelegt unter Kontr.-Nr. 1161". Der Name ist unleserlich, weil das ausgestanzte Montagestück genau an der Stelle ein Loch verursacht. Ich wende und erfahre, dass es sich um eine ausgefüllte Meldekarte eines Arbeitslosen von 1928 handelt und weiter: „Die Sozialcharte der Weimarer Reichsverfassung legte den Grundstein für den Aufbau des Sozialstaates, der Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Armut absichern sollte. Im Jahre 1927 kommt die Arbeitslosenversicherung hinzu." Prägnant und intelligent vermittelt die Ausstellung Informationen, die sowohl über politische als auch soziokulturelle Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts nachdenken lassen. Die Treppe führt hoch zum Ausstellungsteil: „Wirkung nach 1939". Für das Kapitel „Karl Marx global nach 1945" sind Säulen aufgestellt, die einen die Themen „Teilung der Welt", „Kalter Krieg", „Studentenbewegung", „Ost-West-Konflikt", „Sowjetunion als Zentrum des Marxismus-Leninismus", „Afrika" und „Maos China" umrunden lassen. Auf einem Foto trägt Rudi Dutschke 1968 „Das Kapital" unterm Arm. Karl Marx inspirierte ihn zur Gesellschaftskritik.
Die Ausstellungsmacher weisen mit „Kein Ende der Geschichte" darauf hin, dass „Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker Themen und Fragen aufgreifen, die Marx im 19. Jahrhundert zu beantworten sucht". Und fragen: „Kann es überraschen, dass „Das Kapital" von Karl Marx einen Verkaufsboom erlebt?" Aber: Mit Lesen hat noch keiner die Welt verändert ...