Bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Regierung komplett abgewählt. Nach 16 Jahren schwarz-gelber Koalition von CDU/CSU und FDP unter Führung von Helmut Kohl wurde Gerhard Schröder Kanzler einer schwarz-roten Regierung von SPD und Grünen.
In den Umfragen hatte sich der Sieg bereits angedeutet. Aber dass das Resultat am Ende so deutlich ausfallen würde, damit hatte Gerhard Schröder dann doch nicht gerechnet. Das war dem SPD-Politiker auch deutlich anzusehen, als er am 27. September 1998 nach seinem Erfolg bei der Bundestagswahl vor die Mikrofone trat. „Entschuldigt bitte", rief Schröder den jubelnden Genossen zu. „Entschuldigt bitte, dass ich etwas steif hier stehe. Aber dieses Ergebnis ist auch für mich etwas schwer zu begreifen." Als einige ausländische Journalisten ihn mit „Herr Bundeskanzler" ansprachen, weil sie ein Interview mit dem Wahlsieger haben wollten, reagierte Schröder zunächst gar nicht. Als ob er es selbst noch nicht ganz begriffen hatte, was für ein historischer Triumph ihm da gerade gelungen war.
Und das war es in der Tat. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde eine Bundesregierung, nämlich die schwarz-gelbe Koalition von CDU/CSU und FDP unter Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), komplett abgewählt. Nach der Bundestagswahl 1969, nach der Willy Brandt (SPD) das Amt des Bundeskanzlers von Kurt Georg Kiesinger (CDU) übernahm, hatte der ehemalige Juniorpartner SPD die Rolle des Seniors von der CDU übernommen – die Rollen waren also lediglich getauscht worden, während die beteiligten Parteien an sich die gleichen waren. Beim Regierungswechsel 1982 von Helmut Schmidt (SPD) zu Helmut Kohl wiederum hatte sich der Seniorpartner geändert; die FDP als Juniorpartner verblieb in der Regierung, arbeitete künftig aber mit CDU/CSU anstatt mit der SPD zusammen.
Auch in anderer Hinsicht war das Ergebnis historisch. Mit der SPD bekam erstmals eine Partei mehr als 20 Millionen Wählerstimmen. Zudem war der Vorsprung der Sozialdemokraten auf CDU/CSU mit 5,7 Prozentpunkten der größte, den die Partei bei Bundestagswahlen jemals geschafft hat. Nicht einmal Willy Brandt und Helmut Schmidt siegten derart überlegen. Zum ersten Mal waren zudem die Bündnisgrünen an einer Bundesregierung beteiligt – trotz leichter Stimmenverluste gegenüber 1994. Joschka Fischer, der spätere Vizekanzler und Außenminister, jubelte: „Das ist wie das Erdbeben von San Francisco."
Ohrfeige für den „ewigen Kanzler"
Vor allem aber bedeutete die Wahl das Ende einer Ära. 16 Jahre lang hatte Helmut Kohl das Amt des Bundeskanzlers inne, der damit länger regierte als jeder andere vorher. Die meisten Erstwähler von 1998 kannten bewusst gar keinen anderen Bundeskanzler als ihn. Gleich vier SPD-Herausforderer waren zuvor als Kanzlerkandidaten an Kohl gescheitert: 1983 Hans-Jochen Vogel, 1987 Johannes Rau, 1990 Oskar Lafontaine und 1994 Rudolf Scharping. Der frühere Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Herbert Wehner, hatte bereits 1982 prophezeit, dass es 15 Jahre dauern würde, ehe die Partei wieder an die Macht kommt. Am Ende sollte er mit seiner Aussage nur um ein Jahr danebenliegen.
Als „ewiger Kanzler" wurde der im vergangenen Jahr verstorbene Helmut Kohl schon zu Lebzeiten bezeichnet. Der Pfälzer galt als Kanzler der Einheit, als vehementer Befürworter einer schnellen Wiedervereinigung. Bereits 1990 versprach er, die neuen Bundesländer in blühende Landschaften zu verwandeln. Die Menschen im Osten setzten ihre Hoffnung auf den Mann aus Oggersheim und gaben der Bundesregierung deshalb lange Zeit einen enormen Vertrauensvorschuss – selbst, als sich die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung eher als das Gegenteil von blühenden Landschaften herausstellte. Noch 1994 glaubten laut einer Forsa-Umfrage 47 Prozent der Ostdeutschen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den kommenden Jahren verbessern würden, aber nur 33 Prozent der Westdeutschen. Umso größer war die Enttäuschung, als sich die Lage stattdessen weiter verschlechterte. Tatsächlich verlor Helmut Kohl die Bundestagswahl 1998 vor allem im Osten.
Im Gegensatz zur Bundestagswahl 1994, als eine kurzfristige wirtschaftliche Erholung der Kohl-Regierung bei der Wiederwahl half, stiegen die Arbeitslosenzahlen seit 1996 stetig an. Die Reformen blieben aus, auch weil die Opposition dank ihrer Mehrheit im Bundesrat mehrere Gesetzesvorhaben blockierte. Bei der Bevölkerung wurde das jedoch kaum negativ aufgefasst. Stattdessen wuchs die Kritik an der Bundesregierung: Es hatte zunehmend den Anschein, dass nichts passierte, dass Deutschland sich in einer Phase der Stagnation befand. 1997 wurde „Reformstau" zum Wort des Jahres gewählt. Im gleichen Jahr hielt Bundespräsident Roman Herzog seine berühmte „Ruck-Rede". Herzog sagte: „Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland. Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen."
CDU stürzte auf 35,1 Prozent ab
Die Menschen wollten den Wechsel. Und Gerhard Schröder, damals 54 Jahre alt und damit 14 Jahre jünger als Amtsinhaber Kohl, schien genau der richtige Mann dafür zu sein. Sein Wahlspruch lautete: „Veränderung ohne Risiko". Im März 1998 hatte er in Niedersachsen die Landtagswahlen gewonnen und sein Amt als Ministerpräsident erfolgreich verteidigt – noch am selben Abend erklärte ihn die Führung der SPD zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl.
Dabei war auch Schröder keineswegs unumstritten. In Niedersachsen hatte er aufgrund der hohen Verschuldung des Landes ein rigoroses Sparprogramm durchgesetzt, das ihm wegen des Personalabbaus in den Schulen und bei der Polizei auch innerhalb der eigenen Partei viel Kritik einbrachte. 1995 hatte ihm der damalige SPD-Bundesvorsitzende Rudolf Scharping das Amt des wirtschaftspolitischen Sprechers entzogen, nachdem Schröder die SPD-Spitze kritisiert und erklärt hatte, es gehe nicht mehr um sozialdemokratische, sondern um moderne Wirtschaftspolitik. Statt mit sozialer Gerechtigkeit warb die SPD im Wahlkampf 1998 vorrangig mit Wirtschaftskompetenz und Reformbereitschaft. „Jetzt ist eine andere Zeit", sagte Schröder selbst nach seinem Wahlsieg.
Im „Tagesspiegel" analysierte Journalist Albert Funk später: „Schröder gewann, weil er sich dem Gegner inhaltlich näherte." Und schlussfolgerte: „Freilich führte Schröder seine Partei damit auch in ein Dilemma: War sie nun eine Partei der Mitte oder blieb sie linke Volkspartei? Die Rückschau zeigt: Schröder hat mit dieser Strategie seine Partei in eine Spaltung gesiegt; aber das war 1998 nicht absehbar."
Kohl zog sich komplett zurück
Mit 40,9 Prozent der Stimmen – einem Zuwachs um 4,5 Prozentpunkte beziehungsweise mehr als drei Millionen Wählerstimmen – wurde die SPD zum ersten Mal nach 1972 wieder die stärkste Bundestagsfraktion. Die Union kam dagegen nur noch auf 35,1 Prozent und fiel damit erstmals seit den ersten Bundestagswahlen 1949 unter die 40-Prozent-Marke. Die FDP kassierte mit 6,2 Prozent ihr bis dahin zweitschlechtestes Ergebnis auf Bundesebene und fand sich nach 29 Jahren in der Regierung in der Opposition wieder. Neuer Juniorpartner in der Regierung wurde die Partei Bündnis 90/Die Grünen, die 6,7 Prozent bekam. Mit Rot-Grün setzte in der Bundespolitik auch ein Generationenwechsel ein: Viele führende Politiker beider Parteien gehörten der 68er-Generation an und hatten einst in der Studentenbewegung gegen das politische System der Bundesrepublik rebelliert.
Für die CDU wiederum bot sich durch das schwache Ergebnis die Chance zum Neubeginn. Das Ende der Ära Kohl sei ein „Rieseneinschnitt für die CDU", sagte der damalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble. Erst nach dem Debakel war man bereit zum radikalen Bruch mit Helmut Kohl, der die Christdemokraten über so viele Jahre geführt hatte, nun aber vom Parteivorsitz zurücktrat und sich bald darauf ganz aus der Politik zurückzog. Neue starke Frau wurde Angela Merkel, die seit 2005 Bundeskanzlerin ist. Mit ihr an der Spitze wurde die CDU wieder zur stärksten Partei. Wenn Merkel die laufende Legislaturperiode bis 2021 übersteht, wäre sie übrigens 16 Jahre im Amt. Genauso lange wie einst Helmut Kohl.